Eigentlich wollte ich von Kohle nichts mehr hören

Die Geschichte von Annette Kurtzke

Die Stadt Lauchhammer war jahrzehntelang von der Braunkohle geprägt – bis der VEB Braunkohlenveredlung Lauchhammer (BVL) geschlossen und fast alle Gebäude und Anlagen abgebaut und zerstört wurden. Auch meine Familie ist eng mit der Kohle verbunden. Meine Eltern arbeiteten beide in der Kokerei des BVL. Bis zu ihrer Trennung 1974 wohnten wir zusammen in Hohenleipisch. Danach zog meine Mutter mit meinen zwei älteren Schwestern, meinem Bruder und mir nach Lauchhammer um. Wir bekamen eine schöne Altbauwohnung, in der es allerdings kein fließendes warmes Wasser gab, sondern nur einen Badeofen, der mit Kohle angefeuert wurde. Wir erhielten einhundert Zentner Deputatkohle im Jahr und ab und zu eine kleine Brötchentüte Koks.

Anders als meine Schwestern, die alle zum BVL gingen und fortan gemeinsam mit meiner Mutter in der Kokerei arbeiteten, entschied ich mich nach der zehnten Klasse gegen die Kohle. Ich schloss eine Ausbildung zum Facharbeiter für Fleischerzeugnisse ab – beim VEB Geflügelwirtschaft Schwarzheide, einem reinen Schlachtbetrieb.

Die Kokerei ließ mich trotzdem nicht los. Nach Schichtschluss war ich immer live dabei, wenn die zurückliegende Schicht am Küchentisch ausgewertet wurde. Hören wollte ich das alles nicht. Schließlich sagten mir Begriffe wie Bekohlung, Gasverdichtung oder Ofenabzug nichts. Heute ärgere ich mich darüber, dass ich nicht besser aufgepasst habe. Denn leider gibt es in Lauchhammer kaum noch Zeugnisse der Braunkohleveredlung. Von alledem hat sich nichts außer den Biotürmen erhalten. Wäre wenigstens eine Ofeneinheit stehen geblieben, so könnten wir uns heute ein viel besseres Bild davon machen, was da in der Kokerei passierte. Was ich heute darüber weiß, habe ich mir angelesen oder mir anhand von Bildern erklären lassen.

Nach der Wende 1989/90 erging es mir im Schlachtbetrieb ähnlich wie den Kollegen des Braunkohlekombinats. Kurz zuvor hatten wir den Betrieb modernisiert und auf den neuesten technischen Stand gebracht. Nun kam einer aus dem Westen, lief an unserem Band auf und ab, Hände auf dem Rücken. Die Leute sagten: »Passt auf! Den haben sie geschickt. Überall, wo er auftaucht, werden die Betriebe stillgelegt!«

Ganz so schlimm kam es bei uns zunächst nicht. Wir wurden an einen Holländer verkauft. Der modernisierte Betrieb verlor jedoch seine Zulassung für die Hühnerschlachtung. Gänse durften wir noch schlachten, aber es war Sommer und wer kauft im Sommer eine Gans? So brach der Absatz ein und wir gingen in Kurzarbeit. Die neue Geschäftsführung zwang uns, Ware, die nicht verkauft worden war, umzuetikettieren. Als wir uns weigerten, bekamen wir zur Antwort: »Ihr müsst das nicht machen. Da draußen warten hundert andere, die gern euren Job übernehmen.« Es war das Jahr 1993, schon viele Lausitzer hatten ihre Arbeit verloren. So wirkte die Drohung. Schließlich waren wir die letzten, die noch gutes Geld verdienten.

Am Ende des Jahres wurde schließlich auch den Schlachtbetrieb stillgelegt und ich ging in die Arbeitslosigkeit. Schnell fand ich einen Nebenjob in der Gaststätte, kellnerte dort im Biergarten und half in der Küche aus. Ich kann mich überall einarbeiten und bin zur Stelle, wenn man mich braucht. Irgendwann schlug mein Chef vor: »Mensch, Annette, jetzt hast du so viele Jahre im Nebenjob bei mir gearbeitet. Wollen wir nicht eine Festanstellung über Fördermittel draus machen? Da bist du auf der sicheren Seite.« Ich sagte: »Na klar, machen wir.« Als die Fördermittel endlich gezahlt wurden, holte sich zunächst das Finanzamt seinen Teil, weil mein Chef die Steuern nicht mehr bezahlt hatte. Er sanierte sich selbst mit meinem Geld. Ich sah nie etwas davon. Im Gegenteil: Noch vier Monate schuftete ich für ihn – ohne Gehalt – und musste schließlich aufhören. So ging es nicht.

Bei meinem nächsten Arbeitgeber pflegte ich für drei Jahre die Grünanlagen und führte generelle Hausmeistertätigkeiten durch. Ich arbeitete auf eine Festanstellung hin, die mir in Aussicht gestellt wurde: Die Position eines Mitarbeiters, der bald in Rente ging, sollte frei werden. Die Stelle wurde jedoch intern neu besetzt. Daraufhin war ich wieder zu Hause – drei Jahre lang.

Um der Tretmühle des Amtes zu entkommen, ließ ich nicht locker und landete schließlich bei den Biotürmen, als sogenannter 1-Euro-Jobber. Hier gefällt es mir sehr. Ich mache meine Arbeit gern und habe die Vereinsmitglieder lieb gewonnen.

Am Anfang war ich für die Pflege der Grünanlagen zuständig und half, die Bergbaurelikte für den Reliktepark aufzuarbeiten – die Baggerschaufeln, die E-Lok oder das Förderband. Jedoch kommen viele Besucher zu den Biotürmen, auch außerhalb der offiziellen Führungen. Sie sprechen uns Mitarbeiter an und erkundigen sich, was es mit dem Bauwerk auf sich hat. Nun könnte ich ihnen einfach erwidern, dass ich nur für die Grünanlagen zuständig bin und nichts mit den Führungen zu tun habe. Dafür bin ich allerdings zu ehrgeizig. Ich ließ mir vom Traditionsverein einige Hefte zur Geschichte der Kokerei und der Lauchhammeraner Industriegeschichte geben und lernte viel auswendig. Inzwischen kann ich den Besuchern erzählen, wozu die Biotürme dienten und was eigentlich eine Kokerei ist. Allerdings liegt mir das Technische immer noch nicht. Das überlasse ich gern den Vereinsmitgliedern.

Mein Leben lang riss ich mir den Hintern für meine Arbeitsstellen auf und bekam als Dank nur Tritte. Beim Traditionsverein wird meine Arbeit geachtete und geschätzt. Hier möchte ich gern bleiben. Aber meine 1-Euro-Stelle ist ausgelaufen. Das Amt wird sie nicht verlängern. Trotz meiner Bitte! Zwar würde ich gern ehrenamtlich weiterarbeiten, kann es mir aber nicht leisten. Ich brauche eine bezahlte Arbeit und Geld zum Leben.