Wir sind noch alle hier

Die Geschichte von Klaus Nasdal

Ich wurde 1954 in Sedlitz geboren, wie schon meine Eltern, Großeltern und Urgroßeltern vor mir. Meine Urgroßeltern bauten und erweiterten unser Haus am Rande des Dorfes über die Jahre so, dass wir alle gemeinsam dort wohnen konnten. Auch heute leben vier Generationen unter unserem Dach: meine Mutter, meine Frau und ich, unsere Tochter und unser Sohn mit ihren Kindern. Nur eine Enkeltochter beginnt jetzt in Cottbus ihre Lehre und ist mit ihrem Freund dort hingezogen. Alle anderen sind noch immer hier.

Ich verbrachte meine komplette Kindheit in Sedlitz. Hier spielte ich sogar im Tagebau. Die Böschung hinter unserem Haus ging bis hinunter zum Kohleflöz. Im Sommer erlebte ich dort richtige Abenteuer und später, als die Grube ausgekohlt war und das Grundwasser stieg, lief ich im Winter sogar Schlittschuh. Nach der Grundschule besuchte ich die Oberschule in Senftenberg, danach ging es zur Armee. In Freiberg studierte ich Maschinen- und Energietechnik und fand eine Arbeit in der Brikettfabrik in Brieske.

Mit der Wende 1990 wurde ich nicht mehr gebraucht. Ganze Abteilungen des Betriebes wurden geschlossen, andere durften niemanden mehr übernehmen. Ich suchte Hilfe beim Arbeitsamt. Dort sagte man mir: »Sehen Sie zu, dass sie sich irgendwie selbstständig machen. Wenn es nicht klappt, dann kommen Sie wieder her. Aber wir haben erst einmal keine Arbeit für Sie.«

Zunächst bewarb ich mich in der Brikettfabrik Sonne in Freienhufen. Aber da hieß es: »Generelles Einstellungsverbot!«, weil die Fabrik nach 1989 die technologischen Bedingungen der neuen Marktwirtschaft nicht erfüllte. 1997 schloss die Brikettfabrik Sonne. Also landete ich zu Hause und befolgte den Rat des Arbeitsamtes: Ich machte mich selbstständig und gründete eine Kfz-Werkstatt. Vor zehn Jahren übernahm mein Sohn die Geschäfte und ich wurde Kneiper. Das kam so:

Im Jahr 1992 benötigten wir Getränke für unser Dorffest. Diese zu beschaffen war in den ersten Jahren nach der Wende jedoch nicht so einfach. Glücklicherweise kannten wir jemanden aus den alten Bundesländern, der uns belieferte. Er packte einen großen LKW mit Bier, Brause und Saft voll und brachte sie zu unserem Dorffest. Das, was übrig blieb, lagerten wir in unserer Reihengarage ein. An den folgenden Abenden machten Mutter und ich das Garagentor auf und verkauften die Getränke. Beim ersten Mal nahmen wir 74 DM ein. Aber es steigerte sich. Wir kauften einen Laden dazu und vergrößerten uns. Das Geschäft lief sehr gut. Im Jahr 2000 kauften wir einen noch größeren Laden. Der alte wurde zur Kneipe umfunktioniert. Meine Schwägerin führte sie gemeinsam mit ihrer Tochter, bis sie aus gesundheitlichen Gründen aufgeben musste. Ich übernahm das Colorado 2005 und bewirtschafte es seither mit meiner Familie. Die Kneipe ist ein zentraler Ort für unser Dorf, denn dort kommen wir zu besonderen – traurigen und freudigen –Anlässen zusammen.

Im selben Jahr übergaben wir den Getränkeladen an Steffen Philipp. Nachdem meine Mutter noch mit 74 die Kundschaft gut bediente und die Getränke verkaufte, wurde es ihr zu viel. Jetzt ist sie Rentnerin, was nicht bedeutet sie langweile sich. Sie wäscht noch immer unsere Wäsche und bereitet das Mittagessen zu. Die Alternative, alleine in einem Mietshaus zu wohnen, wäre nichts für sie. Mit uns um sich herum ist sie nicht so einsam wie viele andere ältere Menschen heutzutage. Das schöne Gefühl gebraucht zu werden, lässt sie zeitweise sogar ihre Krankheiten vergessen. Beim Arzt klagt sie gerne mal über ihre Leiden, zu Hause tut sie das nie.

Ich freue mich, dass wir alle so nah beieinander geblieben sind. Wenn ich heute meine Enkelkinder in Sedlitz spielen sehe, erinnere ich mich daran, wie ich selbst als Kind die steile Böschung hinunter lief, Burgen aus Sand oder Verstecke aus Schilfrohr baute und jede Menge Unsinn anstellte.

Ein Gedanke zu „Wir sind noch alle hier

  1. Supper alles beschrieben, bin Stolz auf euch, schade, die Zeit war zu kurz, die Familie. deiner Frau kenne ich auch, hätte gerne mehr Zeit gehabt, vielleicht klappt es ja noch. L.g.Gudrun

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