Landwirtschaft – Bergbau – Tourismus:
Der Dreiklang von Geierswalde

Die Geschichte von Manfred Liehn

Vor 100 Jahren lebten die Menschen in Geierswalde von der Landwirtschaft. Handwerker gab es kaum. Das Dorf war im Vergleich zu heute bitterarm und die Bauern führten ein hartes Leben von ihrem kargen Boden. Dass der Bergbau Wohlstand in die Region bringen würde, wussten auch die Bauern. So beschwerten sie sich nicht, als Anfang der 1950er Jahre der Bergbau schließlich nach Geierswalde kam und ihr Ackerland für die Kohlegruben weichen musste. Diejenigen Bauern, die nicht in der LPG tätig waren, fanden Arbeit in den Tagebaugruben oder den Brikettfabriken und lebten dadurch besser als zuvor. Ganz gaben die meisten von ihnen die Landwirtschaft jedoch nicht auf. Sie bauten weiterhin Obst und Gemüse für den eigenen Bedarf an und hielten Vieh.

Obwohl mein Vater bis zu seiner Rente in der LPG arbeitete und auch ich dort meine Lehre hätte machen können, gab es für mich von Anfang an nur den Tagebau. Mit 15 Jahren begann ich eine Lehre zum Maschinisten für Tagebaugeräte im Nachbarort Laubusch. Ich schloss sie 1968 ab und arbeitete fast vierzig Jahre lang im Bergbau – zuerst im Tagebau Scado, da, wo heute der Partwitzer See liegt, und später in Welzow.

Im Tagebau bediente ich die verschiedenen Hilfsgeräte. Wenige Menschen wissen, das in einem Tagebau viel mehr Maschinen arbeiten als die monumentalen Schaufelradbagger und Förderbrücken. Es werden unzählige Zusatzgeräte – wie kleinere Bagger, Kräne, Planierraupen und Radlader – gebraucht, um Abraum zu beseitigen oder die Erde zu ebnen, nachdem die Kohle herausgeholt wurde. Ohne diese Geräte läuft kein Tagebau. Eine große Förderbrücke wandert in der Woche um acht Meter voran. Ehe sie Kohle fördert, baggert sie die darüber liegenden Bodenschichten ab. Hinter ihr, da, wo sie den Boden abwirft, entsteht eine Rippe, eine Art Sandhügelkette. Es ärgert mich, dass diese Rippe immer dann gezeigt wird, wenn im Fernsehen oder den Zeitungen über den Tagebau berichtet wird. Um den Protest zu rechtfertigen, wirkt diese Sandwüste wie ein starkes Symbol – ein Symbol dafür, was der Tagebau aus der Landschaft macht. Sie ist es aber nicht, die nach der Auskohlung übrig bleibt. Schon während die Förderbrücke voran wandert, wird das Gelände von den kleinen Baggern erneut verkippt, es wird geebnet, verdichtet und wieder verkippt. Die wenigen Rippen, die übrig bleiben, liegen nach der Flutung des Tagebaurestlochs unter Wasser und sind nicht mehr zu sehen. Das um den neu entstandenen See liegende Land wird ebenfalls wieder nutzbar gemacht. Es wird mit gutem Mutterboden verfüllt, auf dem die Landwirtschaft oftmals bessere Erträge einfahren kann als auf dem alten Sandboden. Die Landwirte sind froh darüber, solche fruchtbaren Flächen zu besitzen.

1975 war die Grube vor Geierswalde ausgekohlt. Der Tagebau wanderte weiter – und mit ihm die Arbeiter. Entlassen wurde niemand, die Fachkräfte zogen ihrem Arbeitsplatz hinterher. Die neu erschlossenen Vorkommen lagen in Welzow, Nochten und Weißwasser. Ich wurde nach Welzow versetzt – ein Glück, denn so musste ich täglich nur 25 Kilometer pendeln. Busse brachten uns Bergleute zu den Gruben. Um sechs begann die Schicht. Für diejenigen, die weiter weg wohnten, bedeutete das, um halb vier aufstehen, denn schon um vier fuhr der Bus.

Als ich mit 60 in Rente ging, setzte ich endlich einen Plan um, den ich mir schon 1975 gemacht hatte, als die Flutung des Tagebaus Scado begann. Für mich war klar: Die Zukunft des Ortes liegt im Tourismus. Seit wir 1995 unsere letzte Kuh abgeschafft hatten, weil meine Eltern inzwischen zu alt waren, um den Hof zu bewirtschaften, stand der Stall leer. Ich wollte ihn zu einer Ferienwohnung umbauen, und zwar zu einer Ferienwohnung, die für Menschen geeignet wäre, die im Rollstuhl sitzen oder anderweitig gehandicapt sind. Die Idee dazu kam mir in unserem Garten. Wenn ich dort saß, sah ich immer öfter Menschen auf dem Radweg vorbeifahren – im Rollstuhl. Sie können sich durch dieses Hilfsmittel selbst bewegen, sind fit und erkunden so die Gegend rund um den See. Was jedoch zumeist fehlt, sind behindertengerechte Ferienwohnungen, in denen sie barrierefrei unterkommen können.

Was noch 1975 eine bloße Idee gewesen war, nahm 2011 endlich Gestalt an. Wir bauten den Kuhstall um und begrüßten 2012 unseren ersten Gast. Ein Mädchen aus Frankreich, das Deutsch studierte und ein Praktikum in Hoyerswerda machte. Sie litt an einer Muskelkrankheit. Im Alter von 23 Jahren wog sie gerade einmal 35 Kilo. Mit ihren Fingern konnte sie die Tastatur am Rollstuhl bedienen; selbst ein Glas zu halten, war für sie äußerst schwer. Der Tourismusverband hatte uns die junge Frau vermittelt, denn in Hoyerswerda fand sie keine Unterkunft, die ihren Bedürfnissen entsprach. Betreut wurde sie von einer Pflegerin, die ebenfalls aus Frankreich stammte und mit der Betreuung einen anstrengenden 24-Stunden-Job verrichtete. Nach vier Wochen kam eine neue, wurde in ihre Aufgaben eingewiesen und übernahm die Pflege. Regelrecht ausgemergelt war die erste, als sie uns verließ. Aber sie alle, sowohl unsere Studentin als auch ihre Pflegerinnen, fühlten sich bei uns wohl. Wir freuten uns darüber, dass es ihnen so gut gefiel. Drei Monate dauerte das Praktikum unseres französischen Gastes. Ihre Aufgabe bestand darin, Akten und Schriftstücke des Kriegsgefangenenlagers Elsterhorst, das sich während des Zweiten Weltkriegs in der Nähe von Hoyerswerda befunden hatte, zu übersetzen. Danach reiste sie ab. Ein paar Wochen später erhielten wir ein großes Paket aus Frankreich. Als Dankeschön schickte sie uns Wein aus ihrer Heimat.