Die Hilfsbereitschaft im Dorf war groß

Die Geschichte von Gerhard Nickus

Bei den meisten Bauern in unserer Gegend reichten die landwirtschaftlichen Erträge kaum zum Leben. Die Böden waren nicht gut. Für sie kam der Bergbau gerade recht – das war ein sicherer und verhältnismäßig guter Verdienst. Die Bergbaugesellschaft ILSE AG hatte die landwirtschaftlichen Flächen um Geierswalde, unter denen Kohle vorkam, bereits 1913 erworben. Doch die Bauern durften sie so lange weiter bewirtschaften, bis die Kohle angeschnitten wurde. Das war 1952.

Bei meinen Eltern war es so: Sie hatten einen kleinen landwirtschaftlichen Betrieb. Vater begann 1935 im Bergbau in der Brikett-Fabrik in Laubusch. Es musste schließlich jeder zusehen, wie er Geld verdient – und dort verdiente man gut. Meinem Vater viel die Umstellung von Landwirtschaft auf Kohle nicht schwer. In den Dreißigerjahren war die Weltwirtschaftskrise in allen Lebensbereichen spürbar, dadurch war die Anpassungsbereitschaft groß.

Ich bin 1931 geboren. Als Kind fuhr ich mit dem Fahrrad zur Arbeit meines Vaters. Es gab noch keine Werksküche und darum brachte ich ihm sonntags sein Mittagsbrot. Daran erinnere ich mich gut. Die Arbeitsbedingungen waren primitiv. Erst ab den Sechzigerjahren gab es eine Kantine.
Mein Vater arbeitete im Schichtbetrieb. Wenn er aller drei Wochen seine Nachtschicht antrat, musste er zuerst die Karbidlampe in Ordnung bringen, damit er Licht hatte. Durch den Bergbau sank das Grundwasser ab. In den Dörfern versiegten die Brunnen.

1937 baute man ein Wasserwerk, damit war die Wasserversorgung der Leute gesichert. Die Bewohner erhielten das Wasser bis in die Fünfzigerjahre hinein zu einem verbilligten Preis – als Entschädigung für den Grundwasserentzug.
Durch den Tagebau wurde die Straßenverbindung von Geierswalde nach Laubusch weggebaggert. Ansonsten veränderte sich während des Krieges hier wenig.
Die meisten Männer waren im Krieg. Deshalb fehlte es an Arbeitskräften. Mein Vater war bis zum letzten Kriegsjahr »u.k.«– unabkömmlich gestellt – und arbeitete zwölf Stunden pro Tag, um die ganze Arbeit zu schaffen. Das war eine riesige Belastung. Wenigstens verdiente er auch mehr und wir konnten bescheidene Anschaffungen machen. In die Stube kamen ein Kleiderschrank, ein Sofa und eine Vitrine.

Meine Schule lag direkt nebenan. Es gab nur noch zwei Lehrer – ein Fräulein und einen Mann. Alle anderen waren eingezogen worden. Von der vierten bis zur achten Klasse wurden die etwa zwanzig Schüler zusammengelegt. Wir aus der Achten halfen in der Unterstufe aus, als Ordnungspolizei. Wir passten auf, dass keine Dummheiten passieren. Viel geschah nicht. Es herrschten harte Sitten. Wenn etwas nicht klappte, griff der Lehrer zum Rohrstock. Als ich erfuhr, es wird ein Diktat geschrieben, schrieb ich auf mein Lineal die komplizierten Fremdwörter. Der Teufel wollt’s, dass ich es im Klassenraum vergaß. Die nach mir rausgingen, fanden es: »Herr Lehrer, wir haben ein Lineal gefunden!« Vor allen bekam ich Hiebe.

Der Lehrer war ein überzeugter Nazi. Das ließ er uns spüren: Die Kinder von Nazi-Eltern wurden bevorzugt. Mein Vater war politisch unauffällig. 1944 wurde er zum Volkssturm eingezogen. Kurz nach Kriegsende kehrte er aus der russischen Gefangenschaft zurück. Nachdem ich 1945 die achte Klasse beendet hatte, verließ ich die Schule und half in der Landwirtschaft meiner Großeltern und Tante. Zuhause hielten wir Kühe, Schweine und Kleinvieh. Meine Mutter arbeitete auch mit. Geschwister hatte ich keine. Überall war Not am Mann. Ob ich Geld bekam? Was bezahlt man schon unter Verwandten… das waren andere Zeiten. Heute hält jeder erst die Hand auf und dann hilft er. Damals war es umgekehrt. Es musste weitergehen.

Sechs Jahre arbeitete ich in der Landwirtschaft. 1951 begann ich meine Facharbeiterausbildung in der Werkstatt »John Schehr«. Jeden Morgen fuhr ich mit dem Fahrrad nach Laubusch. Die Fabrik war nach Kriegsende demontiert worden. Nach und nach trug man von überall her Pressen und Geräte zusammen und besserte sie aus. In den Werkstätten der Fabrik arbeiteten zweitausend Leute. Nach Feierabend gab es Schulungen zum Tagebau und zu den Geräten.

Ich qualifizierte mich zu jeder höheren Lohngruppe und blieb bis zu meiner Rente 1991. Nebenbei arbeitete ich ab den Sechzigerjahren ehrenamtlich als Gemeinderat in Geierswalde. Es wurden Leute gebraucht, deshalb fragte mich der Bürgermeister: »Willst du das nicht machen?« Es musste weitergehen im Dorf, es musste sich jemand kümmern! Also übernahm ich das Amt. Ende der Fünfzigerjahre gab es große Konflikte, weil einige Bauern nicht in die LPG eintreten wollten.

Das Braunkohlenkombinat (BKK) war verantwortlich für die Werbung neuer LPG-Mitglieder. Um alle Bauern für die LPG zu werben, wurden Leute aus dem Kombinat freigestellt. Das ging nach Plan: Heute so viel Prozent, morgen so viel. Um den zu erfüllen, wandten sie manchmal unfaire Methoden an. Zum Beispiel brachten sie es fertig, am Sonntag, während des Gottesdienstes, einen Lautsprecher an den Baum vor der Kirche zu hängen und laut Musik zu spielen. Damals gingen noch viele Leute in die Kirche. Das war eine Provokation. Man wollte die Leute schikanieren, damit Sie in die LPG eintraten. Irgendwann haben die Bauern verstanden, dass die Effektivität der LPGs besser war. Sie sind eingetreten und haben nicht mehr darüber gesprochen.

In den Sechzigerjahren hat jede Gemeinde für sich umgesetzt, was notwendig war. Da brauchte es keinen Aufruf »Unser Dorf soll schöner werden«. War auf dem Dorf irgendwas zu machen, wurde das erledigt. Ohne großen Aufriss. Es gab viele, die sich organisierten und mit halfen. Die Hilfsbereitschaft war groß! Aber die Vergangenheit habe ich längst abgehakt. Die Jüngeren glauben sowieso nicht, was ich erzähle. Die denken, das war alles so, wie es heute in den Filmen dargestellt wird.