Die Heiden von Sedlitz

Kollektivgeschichte

Monika Blum: Das Dorfleben hat so einiges für sich. Was wir als Kinder erlebten, davon können Stadtmenschen nur träumen.

Silvana During: Kennst du ein Kind, das auf einen Baum klettern kann? Nur ganz wenige, es sei denn, es sind Kinder aus dem Dorf.

Klaus Nasdal: Als Kinder kletterten wir ständig auf die Bäume.

Silvana During: Hoch kamen wir immer. Runter war es schon schwieriger.

Monika Blum: Wir spielten auch oft am Jauchegraben, sprangen drüber weg und fielen natürlich auch rein. Trotzdem rannten wir immer wieder da hin.

Steffen Philipp: Wir hatten da so ein Spiel, »Apfelkrieg« nannten wir es: Einer von uns musste auf den Baum am Jauchegraben klettern, die anderen durften mit Äpfeln nach ihm werfen. Wer mit der weißen Fahne wedelte, der hatte verloren.

Einmal kroch ein Junge hoch, der seinen Opa bei uns im Dorf besuchte. Der erste Appel traf ihn und er konnte sich gerade noch so mit einer Hand festhalten. Ich schoss daraufhin einen zweiten. Dieser traf ihn genau an der Hand, er konnte sich nicht länger halten und flog mitten hinein in die Jauche. Bis zum Bauch stand er drin, als sein Opa dazukam. Der hätte nun mich verjacken müssen, verkannte jedoch die Situation und zog seinem Enkel, der noch immer im Jauchegraben stand, eins mit der Gerte über. Erst dann half er ihm raus, stellte ihn auf die Wiese und spritzte ihn mit dem kalten Wasserstrahl aus dem Gartenschlauch ab. Ja, das waren schon harte Zeiten!

Die kleine Schwester meines Freundes erwischte es auch. Ihr wurde regelrecht das Ohr abgeschossen. Ein Apfel traf sie so hart, dass ihr Ohrring darin stecken blieb und vom Ohr gerissen wurde. Es blutete schrecklich und sie stürmte heulend nach Hause. Wenige Minuten später sah ich ihre Mutter ankommen, die Kleine im Schlepptau, die sich gar nicht mehr beruhigen ließ. Natürlich hatten wir nichts gemacht. »Ich will wissen, wer das war!«, brüllte die Mutter in unsere Runde. Sie glaubte, jemand hatte ihrer Tochter den Ohrring rausgerissen und wollte diesen nun zurückhaben. Ihr ging es nur um das wertvolle goldene Schmuckstück. Und wir fürchteten uns davor, ordentlich Dresche zu kriegen. Den Ohrring fanden wir nie wieder. Er steckte wahrscheinlich in dem Apfel und keiner hatte gesehen, wo der hingeflogen war.

Silvana During: Als Kinder erlebten wir wirklich dolle Sachen. Erst heute weiß ich das zu schätzen. Wir kamen aus der Schule, pfefferten den Ranzen in die Ecke und weg waren wir. Abends tönte ein langgezogener Pfiff durch die Nachbarschaft und alle stürmten los.

Steffen Philipp: Für unsere Streiche wurden wir allerdings hart bestraft. Die Höchststrafe lautete Stubenarrest. Da sind wir regelrecht eingegangen! Wenn du den Kindern heute mit Stubenarrest drohst, lachen sie dich nur aus. Für mich dagegen war es ein Horror, oben auf dem Fensterbrett sitzen zu müssen – es war gerade so breit, dass ich darauf Platz hatte – und den anderen beim Spielen auf der Straße nur zusehen zu können.

Monika Blum: Die winkten hoch zu dir und du hast gekocht vor Wut. Eine der grausamsten Strafen, die es gab. Aber sie tat ihre Wirkung.

Steffen Philipp: Als ich einmal die Wiese des Nachbarn Herr O. angezündet hatte und sein Holzschuppen mit abbrannte, ging ich freiwillig auf die Fensterbank. Ich wusste, dass mein Streich kein gutes Ende nehmen würde. Opa und Oma zitierten mich nach draußen und fragten: »Warst du das?« Ich sah von weitem, dass die Nachbarn noch dabei waren, den Brand zu löschen und brachte kein Wort heraus. Ich konnte doch nicht sagen: »Klar war ich es!« Herr O. stand neben seinem zerstörten Schuppen. Er trug Tuchpantoffeln, die noch qualmten – wahrscheinlich hatte er versucht, das Feuer auszutreten. Als ich das sah, musste ich laut lachen. Von der »Erziehungsmaßnahme«, die meine Oma mir danach erteilte, erholte ich mich lange Zeit nicht.

Monika Blum: Als wir einmal unserer Nachbarin einen bösen Streich spielten – die Details nenne ich lieber nicht –, bekamen meine Freundinnen mächtig Ärger mit ihren Eltern. Meine Mutter dagegen meinte zu mir: »Sag mal, Moni, das warst du doch, oder?« Ich erwiderte: »Nee, Mutti, ich hab nichts gemacht. Ich hatte nur die Idee.« Da musste sie selber lachen und dachte wohl bei sich: »Das haben die Mädels doch mal richtig gemacht und der Nachbarin eins ausgewischt!«

Steffen Philipp: Schöne Zeiten. Unsere Frau Nachbar ließ abends ihr Fahrrad draußen stehen, statt es im Keller einzuschließen. Das fanden die Alten nicht spaßig. Sie versteckten das Fahrrad – vierzehn Tage lang. Nach Ablauf der Frist stellten sie es an die Wand des alten Heuschuppens und befestigten ein Pappschild dran. »Hurra, ich bin wieder da!«, stand drauf. Zur Feier der Rückkehr des Drahtesels holte die glückliche Besitzerin eine Flasche Kirsch-Whisky hervor und es wurde Hoffest gefeiert. Wir Kinder tobten rum und die Alten kippten eine Runde Schnaps nach der anderen.