Was ist Plessa?

Kollektivgeschichte

Gottfried Heinicke: Was ist Plessa eigentlich? Ursprünglich war Plessa ein Fischer- und Bauerndorf. Dann kam die Kohle. Das Dorf wuchs und Betriebe wurden gebaut. Das Braunkohlenwerk mit der Brikettfabrik und der angeschlossenen Lehrwerkstatt wurde in den Dreißigerjahren zum »nationalsozialistischen Musterbetrieb«. Neben dem 1927 in Betrieb genommenen Braunkohlekraftwerk entstanden die Gärtnerische Produktionsgenossenschaft, der Meliorationsbau und andere Betriebe.

In den letzten Kriegstagen lieferten sich versprengte Wehrmachtstruppen und Soldaten der Roten Armee erbitterte Kämpfe. Sie zerstörten viele Häuser, vergewaltigten Frauen. Als Bürgermeister beschäftigte ich eine ABM-Kraft, die sich um die Aufarbeitung der Geschehnisse zum Kriegsende kümmerte. Ich ließ Menschen befragen, die damals zwölf bis sechzehn Jahre alt gewesen waren. Bei den Zeitzeugen sind die Erlebnisse dieser Tage eingebrannt, sie erinnern sich an jede Minute. Solche Bilder gehen einem nie wieder aus dem Kopf. Als ich die aufgeschriebenen Berichte erhielt, konnte ich sie nicht mehr aus der Hand legen. Ich las die halbe Nacht durch.

Nach Kriegsende entwickelte sich die Lausitz zum Zentrum der Energiewirtschaft der DDR. Es wurden Unmengen an Kohle gebraucht. Jeder konnte in der Kohle arbeiten. Es gab gute Löhne und jederzeit freie Stellen. Deshalb siedelten sich in der Region jedoch keine Handwerksbetriebe an. Das ist heute ein Nachteil für unsere Gemeinde.

Carola Meißner: In der Region waren wir in Plessa das erste Dorf, in dem ein Schwarzafrikaner lebte. Gemeinsam mit einem Indonesier absolvierte er in der Lehrwerkstatt eine Ausbildung. Sie wohnten mitten im Dorf bei einer alten Dame.

Auch Vietnamesen lebten in Plessa. In der Lehrwerkstatt wurden mehrere Jahrgänge vietnamesischer Lehrlinge ausgebildet. Sie sprachen Deutsch und wurden gut integriert. Bürger aus Plessa übernahmen Patenschaften, die über den Ausbildungsbetrieb in Zusammenarbeit mit der Gemeinde organisiert wurden. Einige Frauen ließen sich moderne Blusen von den Vietnamesen nähen, die es im Geschäft nicht zu kaufen gab.

Die meisten Vietnamesen nutzten die Ausbildung, um nach der Rückkehr in ihre Heimat als qualifizierte Facharbeiter das eigene Land aufzubauen. Wer gute Leistungen zeigte, durfte länger in der DDR bleiben und hier studieren. So entstanden Freundschaften. Einer unserer Plessaer Lehrlinge kam in den neunziger Jahren noch einmal zu Besuch.

 

»Weihnachtsfeier im Kulturhaus«

Ingrid Mertzig: Die Plessaer bildeten eine gute Gemeinschaft. In unserem Kulturhaus gab es viele bunte Veranstaltungen. In den Siebzigerjahren waren die Puhdys zu Gast und Frank Schöbel und viele Künstler, die man aus Film und Fernsehen kannte. Auch unsere erste Berührung mit der ernsten Kunst fand im Kulturhaus statt: Das Theater Senftenberg führte Stücke von Brecht auf. Wir gingen gern dorthin.

Carola Meißner: Meine erste Erinnerung an das Kulturhaus ist eine Weihnachtsfeier vom Braunkohlenkombinat (BKK) Lauchhammer, zu dem das Kulturhaus gehörte. Walter Kotte, der Leiter des Kulturhauses, trug dafür Sorge, dass die Weihnachtsfeier für uns Kinder zum Höhepunkt wurde.
Unten im Saal waren Holzhütten mit Watteschnee aufgebaut. Jedes Kind erhielt einen Coupon, mit dem es sich in den Hütten etwas aussuchen durfte. Spiele, Bücher, Püppchen, Autos… meine Wahl fiel auf ein wunderbares kleines Bügeleisen aus Blech mit rotem Holzgriff.
Nach dem feierlichen Programm kam der Weihnachtsmann.

Doris Strauß: Über viele Jahre spielte Kurt den Weihnachtsmann. Er machte seine Sache glänzend. Er hatte eine so sympathische Art, mit den Kindern umzugehen und strahlte eine Ruhe auf sie aus, so dass sie keine Angst vor ihm hatten. Als er aus gesundheitlichen Gründen abgeben musste, waren wir ratlos. Bis schließlich Markus Schimmel für ihn einsprang.

Ingrid Mertzig: Meine Kinder sind vier Jahre jünger als du, Frau Meißner. Sie freuten sich jedes Jahr auf diese Weihnachtsfeier. War das Adventswochenende gekommen, gingen wir hübsch zurechtgemacht ins Kulturhaus, lauschten dem Programm und besuchten den Weihnachtsmann. Dann schlenderten wir im kleinen Saal von einer Bude zur anderen. Das war für die Kinder das Schönste.

 

»Die große Explosion«

Ingrid Mertzig: Mir fällt ein schreckliches Ereignis ein, wenn ich zurückdenke. Es war der 17. August 1983. Ich hatte Urlaub und saß in der Küche, plötzlich gab es einen ohrenbetäubenden Knall. Draußen sah ich nur Qualm und Staub und hörte meine Nachbarin entsetzt rufen: »Um Gottes Willen, was ist passiert?« Wir dachten, ein Flugzeug sei in die Brikettfabrik gekracht.

Als Bürgermeisterin erfuhr ich, was passiert war. Tatsächlich hatte es in der Brikettfabrik 63 eine Verpuffung gegeben; wenn eine gewisse Menge Kohlenstaub zusammenkommt und sich entzündet, kommt es zur Explosion. Die Wucht sprengte vier Schlote in die Luft. Die meisten Arbeiter waren glücklicherweise zum Frühstücken im Zechensaal und blieben verschont. Es gab jedoch einige Schwerverletzte, die sofort ins Krankenhaus nach Cottbus gebracht wurden. Vier von ihnen starben an ihren starken Verbrennungen. Eines der Todesopfer, eine junge Frau, hinterließ zwei kleine Kinder.

Nachdem das Klinikum die Angehörigen von ihrem Tod unterrichtet hatte, erhielt auch ich die schreckliche Nachricht. Wir berieten gemeinsam mit dem Betriebsleiter des VEB Braunkohleveredlung Lauchhammer (BVL), der Gewerkschaft und dem Generaldirektor des Gaskombinats Schwarze Pumpe, Dr. Herbert Richter, über die große Trauerfeier im Kulturhaus. Wir bildeten ein Gremium, in dem jeder eine Aufgabe übernahm: Einer kümmerte sich um die Einreise der Westverwandtschaft, einer übernahm die Absprache mit der Kirche, weil zwei Opfer kirchlich beerdigt wurden und zwei weltlich. Die Särge wurden im kleinen Saal des Kulturhauses aufgebahrt. Als die Trauerfeier begann, läuteten die Glocken. Der Pfarrer hielt die Andacht kulanterweise im Kulturhaus.

Die Explosion und ihre Folgen waren für mich das Grausamste, was ich je erlebte. Jede betroffene Familie bekam einen Betreuer, der ihnen zur Seite stand. Auch mein Mann kümmerte sich um eine der Familien.

Gottfried Heinicke: Nach der Verpuffung war es im Ort fünf Tage totenstill. Schockstarre. Danach hieß es: Es wird aufgebaut. Ich arbeitete damals in einem großen Elektrobetrieb: dem VEB Dienstleistung in Elsterwerda. Im BVL waren wir als Fremdfirma über Jahre tätig.
Zwölf unserer Leute wurden für den Wiederaufbau der Fabrik abgezogen. Wir krabbelten in die Ruinen und bauten in Rekordzeit die Elektronik zurück- und wieder auf. Ich sah die gewaltigen TT-Träger aus Eisen, die von dieser riesigen Kohlestaubexplosion komplett verzogen waren. Über einen Meter dicke klinkergemauerte Wände waren weggeflogen und ebenfalls komplett zerstört. Es ist unfassbar, welche Kräfte da gewirkt haben müssen.

 

»Requisiten des Bergbaus: Die Sirene, der Dreck, der Gestank«

Ingrid Mertzig: Die Explosion war das größte Unglück in Plessa. Ansonsten ärgerten wir uns über die kleineren Übel, die die Kohle mit sich brachte. Ich denke an meine erste Wäsche in Plessa. Ich kam aus einer Gegend, wo alles sauber war und man die Wäsche über Nacht hängen lassen konnte. Ich wusch die Wäsche von drei kleinen Kindern, da war jede Menge zu tun. Nach dem Aufhängen wollte ich die Wäsche am Nachmittag wieder abnehmen – da war sie schwärzer als zuvor. »Was ist denn hier los?«, fragte ich mich. Eine Frau aus dem Haus, die mich so verdutzt stehen sah, sagte mir: »Du musst auf die Windrichtung achten. Wenn Westwind ist, brauchst du die Wäsche gar nicht erst aufhängen.«

Carola Meißner: Die Alteingesessenen im Dorf wussten das natürlich richteten sich danach. Nur den Dreck auf der Haut, den bekam man nie ganz weg.

Doris Strauß: Ich habe im Kraftwerk Chemielaborantin gelernt. War die Schicht zu Ende, duschten wir. Doch wenn ich nach Hause kam, sagte Wolfgang, mein Mann: »Herrjeh, wie du stinkst.« Der Geruch hing wie Pech an uns. Man konnte so viel duschen und baden, wie man wollte.

Carola Meißner: Das zog in die Klamotten und in die Haut. Und der Hals blieb dreckig. Wenn ich ein weißes Hemd anzog, sah man hinterher am Kragen die Bescherung – alles schwarz.
Ich wuchs im östlichen Teil des Ortes auf. Selbst wenn nieseliges Wetter war, ließ meine Mutter die Wäsche über Nacht draußen hängen. Dann zog ich um, nur einige Querstraßen weiter Richtung Kraftwerk und Fabrik. An einem regnerischen Tag ließ ich, wie von zu Hause gewöhnt, die Wäsche draußen hängen. Erneutes Waschen half nichts. Ich steckte sie sogar in den Kessel, obwohl es keine Kochwäsche war. Zum Schluss warf ich die Hälfte meiner Sachen in die Mülltonne, weil ich sie nicht sauber bekam.

Die Brikettfabrik dünstete fettigen Staub aus und das Kraftwerk spuckte größere Stücke, die dann vom Himmel runterkamen. Wenn man auf dem Hof lief und der Wind wehte den Kraftwerksdreck rüber, dann knirschte es unter den Füßen. Das gehörte zur Kohle dazu. Heute sind wir geradezu ein Luftkurort.

Gottfried Heinicke: Plessa boomte genau wie Lauchhammer. Menschenmassen wälzten sich bei jedem Schichtwechsel die Bahnhofstraße hoch und runter. Wenn die Schichtzüge ankamen, Doris, du weißt das noch, füllte sich die Kneipe bis auf den letzten Stuhl. Bis 1960 wuchs die Einwohnerzahl von Plessa auf fast viertausend. Dann war Schluss. Die Kohle und der Braunkohlenkoks – das wurde alles nicht mehr gebraucht.

Ingrid Mertzig: In der Brikettfabrik gab es einen Pfeifton, der zu besonderen Anlässe ertönte. Einem Mann gelang es, in der letzten Schicht der Brikettfabrik 63 die Pfeifen zu betätigen. Die Leute kamen auf die Straße und hatten Tränen in den Augen. Sie wussten: Es geht eine Tradition zu Ende. Ich werde das Bild nie vergessen.