Ein Pferd auf dem Flur: Geschichten aus der Gaststätte

Geschichte von Clemens und Jutta Schumacher

Clemens Schumacher: Meine Frau und ich kamen 1976 aus Berlin ins Kulturhaus. Jutta, die aus Plessa stammt, hatte zufällig das Stellenangebot gelesen. »Arbeit mit Wohnung« hieß es. Das interessierte uns, denn eine Wohnung zu finden war in der DDR nicht einfach. Die versprochene Wohnung befand sich direkt im Kulturhaus. Das schien ideal und so bewarben wir uns bei der HO, um die Gaststätte zu übernehmen.

Jutta Schumacher: Die HO war die Handelsorganisation der DDR. Sie bildete die staatliche Dachorganisation kleiner Lebensmittelläden und Restaurants. Anders als im Konsum gab es in den Läden der HO Waren besserer Qualität. Die kosteten allerdings auch mehr.

Clemens Schumacher: Ende des Jahres 1975 unterschrieben wir den Vertrag. Meine Frau begann im Frühjahr 1976 mit der Arbeit. Ich beendete zunächst meine Prüfung als Serviermeister im »Interhotel Stadt Berlin«, direkt am Alexanderplatz. Im Sommer 1976 folgte ich Jutta in die Lausitz.

Schnell lernten wir die Probleme bei der Versorgung der Gaststätte kennen. Aus Berlin – der Hauptstadt der DDR, die gut versorgt wurde – kannten wir das nicht.

Jutta Schumacher: Einmal in der Woche lieferte die Großhandelsgesellschaft (GHG) aus Finsterwalde Wein, Sekt, Schnaps und Tabakwaren. Wir bestellten unsere gewünschte Menge, erhielten sie jedoch nicht.

Deshalb reichten die Getränke selten für alle Veranstaltungen. Die Feierlichkeiten zum »Tag des Lehrers« zum Beispiel dauerten zwei Tage. Wenn nur eine Flasche Wein auf jedem Tisch stand, breitete sich Unmut aus. Dann hieß es: »Schumachers sind zu dumm, um ordentlich zu bestellen!«

Die Gäste ahnten nicht, welche Kopfstände wir vollführten, um besser beliefert zu werden. Unzählige Male rief ich beim Großmarkt in Finsterwalde an und fragte nach Ware. Ich erklärte, dass ich in Plessa säße und meine Gäste bedienen müsse. Darauf antwortete mir der Mitarbeiter am anderen Ende der Leitung: »Sie sind in Plessa? Kreis Liebenwerda? Der ist endversorgt. Sie kriegen nichts mehr!« Was sollte ich machen? Nichts half, obwohl ich mich gern mit den Mitarbeitern anlegte.

Bei der Versorgung mit Fleisch erging es uns ähnlich. Wir bestellten jede Woche Fleisch, auch wenn wir es nicht sofort verbrauchten. Was übrig blieb, froren wir ein, damit bei der nächsten Feierlichkeit etwas auf den Tisch kam. Ich erinnere mich an eine Jugendweihe zu Beginn der Achtzigerjahre. In der Regel belieferte die Konsumfleischerei in Elsterwerda jeden Ort zur Jugendweihe ein bisschen besser. Aber in jenem Jahr öffnete ich unsere Kisten und fand darin nur Schweinebug. Daraus konnten wir kleine Schnitzel schneiden, sonst nichts.

Ich rief wütend im Kombinat an. Als das nichts half, stieg ich in meinen Trabi und fuhr nach Elsterwerda. Ich überzeugte die Mitarbeiter mit Ach und Krach, mir Fleisch einzupacken.

Clemens Schumacher: Durch meine Ausbildung besaß ich Verbindungen nach Berlin. Diese halfen mir, Edelkonserven zu bekommen – Ananas, Mandarinen, Spargel und Champignons. Champignons würde heute kein Restaurant mehr in Dosen kaufen. Alle wollen Frischware. Damals exportierte die DDR frische Champignons in die BRD. Für uns waren Konserven der Ersatz. Allerdings erhielten wir nie so viele Dosen Champignons, wie wir brauchten. Ich organisierte die zusätzlichen Mengen in der Hauptstadt, fuhr mit meinem Auto nach Berlin und packte den Kofferraum so voll, wie es ging.

Jutta Schumacher: Die Kuchenversorgung bei Familienfeiern lief entspannter ab – dank des Zusammenspiels zwischen uns und den Feiernden. In Plessa ist es Tradition, dass die Familien ihren eigenen Kuchen mitbringen. Eine Familie sticht die andere dabei aus. Als Ergebnis gab es bei jedem Familienfest ein Kuchen-Buffet vom Feinsten. Wir mussten uns nicht darum kümmern.

Clemens Schumacher: Als Günter Kamenz, ein engagierter Plessaer, in den Siebzigerjahren einen Bauernmarkt organisierte, galt es, diesen zu versorgen. In Absprache mit Günter sollte es Wildschweingulasch geben. Keiner im Ort besaß einen Kessel. Wo sollten wir den herbekommen? Wieder halfen mir meine Verbindungen zum »Interhotel Stadt Berlin«. Ich holte den Kessel mit meinem gerade vier Wochen alten Auto ab. Während der Heimfahrt lag der Kessel auf der Rückbank. Es war spät am Abend. Und plötzlich… Rumms! Da lief mir ausgerechnet ein Wildschwein vors Auto! Der Wagen schlingerte von rechts nach links und ich bekam ihn gerade so zum Stehen. Ich stieg aus und lief einmal um das Auto herum. Der Kotflügel war hin, von dem Wildschwein keine Spur. Ich dachte: »Hoffentlich kommt das Biest nicht hinter mir her!«, stieg ein und fuhr davon.

Jutta Schumacher: Wir erlebten viele witzige Geschichten im Kulturhaus. So schaute an einem Tag der Republik Anfang der Achtzigerjahre plötzlich ein Pferd zur Tür der Gaststätte rein. Das kam so:

Friedrich Schneider und Siegfried Heinrich saßen am Tisch. »Friedrich, lebt dein alter Gaul noch?«, fragte Siegfried Heinrich.

»Beleidigst du noch einmal meinen Schimmel Harry, hole ich ihn hierher!« »Ich geb dir hundert Liter Bier aus, wenn du das machst!«

Friedrich zog los, um sein Pferd zu holen. Als er mit Harry vor dem Kulturhaus ankam, warnte ihn unser ABV: »Friedrich, mach das nicht! Du bekommst Ärger mit der Stasi.« Als Dorfpolizist fühlte er sich verantwortlich. Unser stolzer Pferdebesitzer ließ sich nicht beirren. Die Jugendlichen, die zum Tanz im Haus waren, hielten ihm die Tür auf und standen Spalier. Im Foyer angekommen, öffnete Friedrich die Tür zur Gaststätte und sein Schimmel schaute zu uns herein.

Die Wette hatte er gewonnen! Mit der Stasi bekam er keinen Ärger.

Clemens Schumacher: Zum Jahreswechsel 1978/1979 trug sich die nächste dieser absurden Geschichten zu. Es handelte sich um einen der schlimmsten Wintereinbrüche, eine Katastrophe. Das ganze Land versank im Schnee. Bei uns versagte die Stromversorgung zwölf Minuten vor Mitternacht. Das Notstromaggregat hielt nur die kleinen Lämpchen der Notbeleuchtung am Laufen. Ansonsten herrschte im Haus Dunkelheit. Die Plessaer Silvestergäste wussten sich zu helfen: Auf dem Steinboden im Foyer zündeten sie ihre Eintrittskarten an, um etwas Licht zu haben.

Jutta Schumacher: Alle fanden es gemütlich und die Feier zog sich bis zwei Uhr morgens hin. Uns freute das, denn so wurden wir den Sektvorrat los, den wir übers Jahr gesammelt hatten. Sekt war sonst wenig gefragt. Erst zu Silvester stand er hoch im Kurs.

Clemens Schumacher: Während des Karnevals tranken die Gäste vor allem Bier. Über die Theke gingen fünfunddreißig bis vierzig Fässer mit je hundert Litern. Da rollte einiges an Fässern – und an Menschen.

Bei Familienfeiern fragten die Gäste vor allem nach Likör. Diesen gab es jedoch nicht in den nötigen Mengen. Um acht Flaschen Likör zu bekommen, mussten wir hundert Flaschen Wodka abnehmen. Diesen konnten wir wiederum gut in Mixgetränken bei Tanzveranstaltungen umsetzen.

Jutta Schumacher: An Karneval war das gesamte Kulturhaus über mehrere Wochen ausgebucht. In jedem Raum feierten die Jecken – Rentner, Schulklassen, Betriebe, Vereine – alle veranstalteten eigene Feiern. Für Stimmung sorgte eine Rutsche, die extra auf der Treppe aufgebaut wurde. Die Gäste nutzten die Bar, den Imbiss, die Nebenbühne, sogar in der Kulissen-Schleuse tanzten sie.

Am »Tanz in den Frühling« hing unser Herz. Unsere Mitarbeiter sträubten sich, als wir mit der Idee zu ihnen kamen. »Ach, was wollen die da wieder machen?«, sagten sie. »Die junge Leute haben nur Rosinen im Kopf!« Clemens und ich bereiteten die Veranstaltung allein vor. Erst am Abend des Tanzes half unser Personal mit. Sie hatten nicht geglaubt, dass wir so eine Feierlichkeit auf die Beine stellen konnten. Doch wir zogen unseren Plan durch. Wir deckten die Tische ein, platzierten Servietten und Blumen – damit es gemütlich wirkte. Mein Mann empfing die Gäste, begleitete sie an die Tische und zündete die Kerzen an. Wir servierten ein Drei-Gänge-Menü, das alle begeisterte. So brachten wir ein bisschen »Interhotel« nach Plessa. Schließlich denken die Leute auf dem Dorf nicht anders als in der Stadt. Viermal richteten wir den »Tanz in den Frühling« aus. Die Karten waren lange im Voraus ausverkauft.

Clemens Schumacher: Unsere Zeit in Plessa endete 1987. Die Schwierigkeiten wuchsen. Die Mitarbeiter der Gaststätte unterstanden der HO, anders als die übrigen Beschäftigten im Kulturhaus. Diese wurden vom VEB Braunkohlenveredlung Lauchhammer (BVL) bezahlt und erhielten höhere Löhne. Nicht so das Gaststättenpersonal. Deshalb hatten wir Probleme, Arbeitskräfte zu finden. Hoffnung schöpften wir, als wir einen neuen Küchenmeister aus dem »Interhotel« und seine Frau einstellen wollten. Eine Woche vor seinem Arbeitsantritt erreichte uns die Hiobsbotschaft: Die Stasi hatte ihn verhaftet. Für uns bedeutete dies das Ende.

Jutta Schumacher: Wir wollten unsere Gäste gut versorgen. Trotz der Probleme machte es Spaß und es freut uns, dass wir den Plessaern in guter Erinnerung geblieben sind.

Es ist heute unvorstellbar, welche Schwierigkeiten wir damals hatten. Aber es ist wichtig, davon zu erzählen, damit es nicht vergessen wird.