Vom Polstern und der Politik

Geschichte von Christina und Ilona Nicklisch

Ausgezeichnete Geschichte im Wettbewerb „Die besten Lausitz-Geschichten“ (Kollektivgeschichte)

Ilona Nickisch: Meine Schwester Tina und ich stammen nicht von hier, sondern aus Wormlage. Unser Vati ist dagegen ein waschechter Briesker.

Als gelernter Polsterer ging er auf Wanderschaft und traf dabei in Wormlage unsere Mutti. Er versprach, ihr eine schöne Herrencouchgarnitur anzufertigen, mit großen Clubsesseln. Die Heirat fand statt, bald darauf kam unsere Schwester Bärbel zur Welt, Christina und ich folgten sechs Jahre später. Nur mit den Möbeln ließ mein Vater auf sich warten. Die lieferte er erst 25 Jahre später. Zur Silberhochzeit!

Christina Nickisch: Unsere Großeltern besaßen in Brieske ein kleines Siedlungshäuschen mit großem Garten, Feld und Wiese. Als sie starben, waren Ilona und ich gerade zwölf Jahre alt.

Unsere Eltern planten, dorthin zu ziehen und fragten uns, was wir davon hielten. Ilona und ich waren überhaupt nicht begeistert. Mit all unserer Energie stemmten wir uns dagegen. Unsere Eltern beschlossen den Umzug trotzdem und wir fügten uns schweren Herzens.

Kurz darauf erfolgte unser erster Auftritt in der neuen Heimat: Es galt, den ersten Schultag der sechsten Klasse zu überstehen. Früh am Morgen trat die gesamte Schülerschaft zum Fahnenappell an. Wir beiden Neuen fielen auf: »Ach, die Brillenschlangen sind da!« Mit mir hatten sie genau die Richtige erwischt. Die Hänselei konnte ich nicht stehen lassen. Ich war schon damals um keine Antwort verlegen. Ilona hielt mir den Rücken frei. Es gab einen Schlagabtausch – nicht nur mit Worten. Danach waren die Fronten geklärt. Wir behaupteten uns. Bald traute sich keiner mehr, uns einen Spruch aufzudrücken. So, wie wir uns in der Schule gemeinsam durchsetzten, arbeiten wir auch heute noch zusammen: Wir sind ein Team.

Mit dem Schulabschluss in der Tasche wollten wir studieren. Allerdings engagierten wir uns stark in der Kirche. Das war ein Hindernis.

So machten wir den Facharbeiter in Kraftwerkstechnik und begannen, im Kraftwerk Brieske zu arbeiten. Unsere Qualifikation zum Meister in der Wasseraufbereitung im berufsbegleitenden Fernstudium bezahlte der Betrieb. Als Frauen wurden wir in der DDR gefördert.

Mitten in unser Meisterstudium el die Wende. Zu unserem großen Glück nanzierte der Betrieb dennoch die Ausbildung bis zum Abschluss im Jahr 1991. Die Klassen nach uns mussten bereits fünfzehntausend Mark in ihre Meisterausbildung investieren. Unsere Dankbarkeit zeigten wir, indem wir diszipliniert unsere Arbeit erledigten.

Unsere Kindheit verbrachten wir gemeinsam mit unserer fünfzehn Jahre älteren Schwester Renate, die Mutti mit in die Ehe gebracht hatte, in Wormlage.

Ilona Nicklisch: Der Mauerfall kam für mich überraschend. Nach meiner Schicht in der Turbinenabteilung ging ich pünktlich nach Hause, um meine Lieblingsserie »Dallas« zu schauen. Doch als ich den Fernseher anmachte, liefen die Nachrichten. Ich fragte mich: »Was quatschen die von wegen: Die Grenzen sind auf!« Das interessierte mich nicht und ich schaltete das Gerät ab. Erst am nächsten Morgen realisierte ich, was die Nachricht bedeuten könnte. Sorgen machte ich mir um die Arbeit im Kraftwerk. Kollegen wurden entlassen. Wer blieb, erhielt weniger Lohn als zuvor. Wir beschlossen: »Trotz allem wollen wir bis zum Schluss unsere Arbeit ordentlich machen.«

In den letzten Monaten arbeiteten wir oft zwölf Stunden am Tag, weil die Arbeitskräfte fehlten. Im November 1999 wurde ich dreißig Tage am Stück im Kraftwerk eingesetzt.

Nach der Schicht ging ich nach Hause, fütterte das Vieh, schlief und kehrte nach dem Aufstehen zurück zum Arbeitsplatz. Wenn ich an diese Zeit denke, frage ich mich, wie wir das schafften. Zumal auch unsere Kinder versorgt werden mussten. Oft half unsere Schwester Bärbel, die arbeitslos wurde.

Christina Neckisch: Bis das Kraftwerk im Jahr 2000 abgefahren wurde, blieben Ilona und ich als Jüngste im Dienst. Anschließend setzten wir uns wieder auf die Schulbank. Wir lernten im Direktstudium alles über Finanzen, Management, Buchhaltung und Steuerrecht. Dieser Lehrgang brachte uns in die Zukunft. Heute führe ich meinen eigenen Finanzdienst, bin selbstständige Maklerin im Finanz- und Versicherungswesen. Ilona ist in der Firma als Buchhalterin angestellt.

Während unserer Fortbildung kamen wir jeden Tag am Kraftwerk vorbei und sahen, wie unsere ehemaligen Kollegen ihre eigene Arbeitsstelle abreißen mussten. Das war schlimm. Viele Tränen ossen. Ich bewundere die Kollegen bis heute für ihr Durchhaltevermögen und ihre Courage.

Schon zwei Jahre zuvor, 1998, wurde ich zur Bürgermeisterin von Brieske gewählt – nachdem ich bereits sieben Jahre in der Gemeindevertretung tätig war. Das verdanke ich Monika Auer. Sie animierte mich, dieses Ehrenamt für Brieske zu übernehmen. Politik interessierte mich ohnehin. Der Zustand von Brieske trug zu meiner Entscheidung bei.

Ilona Nicklisch: Bei uns macht keine was alleine. Ich folgte Tina und brachte mich in der Gemeindevertretung ein. Bis heute engagieren wir uns, um unser geliebtes Brieske voranzubringen. Christina ist die Managerin, die am Schreibtisch sitzt, und ich ihre ausführende Hand.

Christina Nicklisch: Auch wenn ich mittlerweile sagen kann, dass ich sehr gern Ortsvorsteherin von Brieske bin, haderte ich in den ersten Jahren mit meinem Entschluss. Immer wieder fragte ich mich: »Du hast einen super Job. Warum tust du dir das nebenbei ehrenamtlich an?« Ich hatte die Herausforderung angenommen, sie überforderte mich jedoch anfangs. Ich musste mich als Neuling unter den Bürgermeistern der fünf Gemeinden behaupten, aus denen die Amtsgemeinde »Am Senftenberger See« bestand.

Zum Glück stand Peter Gallasch, der Amtsvorsteher der Gemeinde, an meiner Seite. Wir ergänzten uns gut, er wurde mein Vorbild. Peter konnte mit seiner nüchternen, ehrlichen Art wunderbar mit Leuten umgehen. Die schwierigsten Themen erklärte er gut verständlich und verzichtete dabei auf Bürokratendeutsch.

Er brachte mir zudem das Projekt »Wohnen am Werk« nahe. Dessen Kern bildete zunächst ein Runder Tisch, welcher die Frage zur Sanierung der Gartenstadt Marga klären sollte. Die ehemalige Werkssiedlung befand sich in einem sehr schlechten Zustand und sollte denkmalgerecht wiederhergestellt werden.

Das Projekt machte mir bewusst, wie es wirklich um Brieske stand. Die Gartenstadt verfiel.
Als die Treuhand-Liegenschaftsgesellschaft ( TLG) die Sanierung übernahm, verordneten wir als Gemeinde einen kompletten Leerzug. Mir war dabei mulmig zumute. Aber die Gebäude mussten von Grund auf entkernt werden. Deshalb konnten die Bewohner nicht bleiben.

Während der Umbauarbeiten kam es hin und wieder zu Pfusch. Teilweise trafen wir falsche Entscheidungen, ein Gebäude zu erhalten oder abzureißen.

Im Großen und Ganzen wurde »Wohnen am Werk« jedoch zu einem Erfolg für Brieske. Ich bin sicher, das Projekt brachte die Weiterentwicklung unseres Ortes entscheidend voran.

So erzähle ich es heute auch den Besuchern, die sich die Gartenstadt-Ausstellung neben der »Kaiserkrone« ansehen: »Wir hatten eine Ruine und machten daraus ein Kleinod. Das kann uns keiner mehr nehmen.«

Die Touristen sind begeistert von unserem Engagement und sagen: »Solche Leute wie euch könnten wir auch bei uns gebrauchen.«

Ilona Nicklisch: Ich erzähle den Touristen, dass es dafür nur die richtige Einstellung braucht. Christina und ich reden mit den Menschen, wir hören ihnen zu und kümmern uns um den Ort. Zum Glück sind wir nicht die Einzigen. Viele hier engagieren sich sehr für Brieske.

Bei einigen Entscheidungen handelten wir zu gutgläubig. Wir dachten, wir tun den Einwohnern etwas Gutes und stellten hinterher fest: Sie sehen das ganz anders. Da hilft nur, die Dinge auszuprobieren.

Christina Nicklisch: Oft halfen mir die Gespräche mit Peter Gallasch.
Zu Beginn meiner Amtszeit gab es keine Handys, wir trafen uns stän-dig und unterhielten uns persönlich. Wenn Peter etwas durchsetzen wollte, stieg er ins Auto und fuhr los. Richtung Potsdam. Über seinen Fahrstil sagten wir Kollegen: »Ein Rennfahrer ist nichts dagegen. Wenn du schnell irgendwo sein willst, fahr mit Peter.« Die Verhandlungen in der Landeshauptstadt verliefen meist erfolgreich. In einigen Fällen jedoch elen uns die Entscheidungen nicht leicht. Der Beschluss, Brieske an Senftenberg anzugliedern, bereitete uns Kopfzerbrechen. Dennoch gab es meiner Meinung nach keine Alternative. Wir wollten unsere Straßen erneuern und Marga sanieren. Dafür brauchten wir den finanziellen Rückhalt der Stadt.

Anders verhielt es sich bei der Neupflasterung des Marktplatzes.
Wir gewannen einen Wettbewerb der Bayer AG. Damit standen uns 300 000 D-Mark für die Umbauarbeiten zur Verfügung. Der Entwurf mit Jugendstiladaptionen stand, alles schien geklärt. Doch dann mischte sich der Landeskonservator des Landes Brandenburg ein. Er forderte eine denkmalgerechte Sanierung: »Wenn ihr das nicht macht, werdet ihr als Gemeindevertreter nanziell zur Verantwortung gezogen. Außerdem bekommt ihr von mir keine Unterstützung für die Sanierung der Gartenstadt.«

Der Platz war bereits eingerissen, die Gemeinde in Befürworter und Gegner gespalten, die Medien berichteten. Kurz: Eine Entscheidung musste her. Wir ruderten zurück und ließen den Markt mit Granitsteinen pflastern. Diese Geschichte zeigte mir erstmals, wie wenig Einfluss wir Lokalpolitiker am Ende doch besitzen.

Ilona Nicklisch: Gerade in den ersten Jahren nach der Wende ließ sich noch einiges bewegen. Die Jahre des Sturm und Drang, sage ich dazu. Wir handelten mit viel Eigeninitiative. Oft stellte sich erst im Nachhinein heraus, ob die Entscheidung, die im Gemeinderat gefällt wurde, richtig war.

Wir machten auch Fehler. Vor allem wegen des Abrisses des alten Stadions kommen mir immer wieder Zweifel. Die Menschen aus dem Ort verbanden mit der Sportstätte viele Erinnerungen. Viele der »Alten« hatten sie in freiwilligen Aufbaustunden mitgestaltet. Unser Vater organisierte dort Events und half, wo er konnte. Würde er noch leben, wäre er sicher traurig über den Verlust.

Christina Nicklisch: Unser Vater hatte sich immer Jungs gewünscht. Als Polsterer wollte er sein Wissen an einen männlichen Nachfolger weitergeben, doch dann bekam er uns. Wir waren zwar zwei Büchsen, aber verhielten uns wie die wildesten Kerle. Ilona und ich fuhren Moped, Motorrad, Auto. Wir liebten Rennmaschinen und besaßen ein Händchen für alles Praktische. Besonders Ilona ist handwerklich begabt.

Ilona Nicklisch: Vati zeigte meiner Schwester Bärbel und mir in seiner Werkstatt, wie die Polsterei funktionierte. Er betonte zwar: »Das ist ein schwerer Job, ihr solltet das nicht lernen«, brachte uns aber alles von der Pieke auf bei. Dadurch weiß ich, wie viel Arbeit es macht, ein Möbelstück herzustellen. Wenn ich im Einrichtungsladen jemanden sagen höre: »Ist das teuer!«, erwidere ich: »Eigentlich ist es gar nicht bezahlbar, wenn es von Hand hergestellt werden soll.«

Heute betreibe ich die Polsterei als Hobby. Wenn Freunde und Bekannte zu mir kommen, helfe ich gern. Hauptberuflich könnte ich mir das nicht vorstellen. Stattdessen fanden wir eine andere Verwendung für die Werkstatt. Ich beschloss sie als kleine Gaststätte umzubauen. Unsere Nichte Roxana übernahm die Bewirtschaftung. Sie ist eine wunderbare Kuchen und Tortenbäckerin und verwöhnt ihre Gäste liebevoll mit allerlei Speisen. Heute ist unser Café Roxy nicht nur ein Anlaufpunkt für Touristen, sondern kommt auch bei den Brieskern selbst gut an. Einmal mehr haben wir gemeinsam aus alt neu gemacht und zum Wohle der Bürger und Gäste einen Ort des gemütlichen Zusammenseins geschaffen.