Ohne die Kohle gäbe es mich gar nicht

Die Geschichte von Peter Pohle

Ich kam im Dezember 1943 in Marga zur Welt, als Nachzügler. Mein Bruder war bereits neun Jahre alt und mein Vater fast vierzig. Er und meine Mutter dachten nicht daran, ein weiteres Kind zu bekommen. So wäre ich nie geboren, hätte es die Kohle nicht gegeben: 

Im März 1943 erfuhr mein Vater, dass er »uk gestellt« war. Als Großgerätefahrer im Tagebau Hörlitz wurde er als unabkömmlich eingestuft. Er konnte somit nicht zum Kriegsdienst eingezogen werden. Einen Monat zuvor hatten die Deutschen in Stalingrad kapituliert. Viele junge Männer aus Marga ließen dort ihr Leben. Auch mein Vater fürchtete, als Soldat in den Krieg zu müssen. Seine Freude darüber, dass er keinesfalls eingezogen werden konnte, war unbeschreiblich. Jedoch durfte er es sich nicht anmerken lassen.

Als ihm die Uk-Einstufung mitgeteilt wurde, bedauerte er wortreich, dass er nun nicht für sein Vaterland kämpfen könne. Sobald er sich jedoch außer Sichtweite des Büros befand und auf dem Gelände der Pferderennbahn des Betriebsdirektors der Grube Marga, Julius Klitzing, ankam, ließ er seiner Freude freien Lauf: »Wenn mich da einer gesehen hätte, wie ich mich auf der Weide rumgesielt habe, weil ich nicht gehen musste!«, erzählte er uns oft. Neun Monate später wurde ich geboren.

Dass ich das Licht der Welt in unserer Wohnung in der Viktoriastraße erblickte, war nicht ungewöhnlich. Später gingen die werdenden Mütter ins Krankenhaus nach Annahütte – so auch meine Frau, die unsere beiden Töchter dort zur Welt brachte. Aber in meinem Ausweis steht noch heute »geboren und wohnhaft in Marga«. Mit der Umbenennung des Ortes in Brieske-Ost sollte dieser Eintrag getilgt werden. Laut offizieller Anweisung hieß es ab 1949 »geboren in Brieske-Ost« und nicht mehr »geboren in Marga«.

Die Gründe für die Umbenennung konnten wir Margaschen jedoch nicht nachvollziehen: Die Gartenstadt wurde nach der »Grube Marga« benannt und gehörte zur Ilse Bergbau AG. Deren Generaldirektor Gottlob Schumann benannte die Grube 1906 nach seiner jung verstorbene Tochter Marga. Nun wurde der Name verboten, obwohl Schumann, selbst Sohn eines Bauern und bereits 1929 verstorben, nichts mit dem Faschismus und der Hitlerzeit zu tun gehabt hatte. Erst seit der Wende 1989 sind wir wieder Marga und ist auch wieder die Rede von der Gartenstadt Marga.

Aus der Wohnung in der Viktoriastraße zogen wir 1948 in die Hauptstraße, die heutige Franz-Mehring-Straße. Als mein Vater noch lebte, saßen wir oft abends am Küchentisch – es gab noch keinen Fernseher, der uns zur Ablenkung diente – und hörten seinen Geschichten zu. Dabei erzählte er viel von der Arbeit im Tagebau, als Baggerfahrer und später als Lokführer. Die Geräusche des Tagebaus, das Quietschen und Pfeifen der Maschinen, gehörten zu unserem Leben. Wir wussten genau: Herrschte Ruhe, dann stimmte etwas nicht; dann machten wir uns Sorgen.

So wuchsen wir in der Gartenstadt auf. Auch der Kohlendreck gehörte dazu, aber er störte uns Kinder nicht. Erst später, als ich meine Frau Erika nach Marga brachte, kostete er mich fast meine Ehe. Wir heirateten 1965, ein Jahr später starb mein Vater. Da es kaum große Wohnungen gab, zog meine Mutter aus und wir konnten in der Franz-Mehring-Straße bleiben. Erikas Schwester lebte jedoch mit ihrem Mann in Stralsund, in einem hübschen Eigenheim. Wir bekamen dort einen Ferienplatz und genossen unsere Urlaube in der sauberen Umgebung. Wenn wir dann zurückkamen, mit dem Auto am Markt um die Ecke bogen und unser Haus sahen, wollte meine Frau am liebsten wieder umkehren. So schlimm erschien ihr der Dreck, an den ich seit jeher gewöhnt war. Sie blieb jedoch bei mir und vor Kurzem feierten wir unsere Goldene Hochzeit.

Inzwischen hat sich vieles in Marga verändert – zum Positiven aber auch zum Negativen. Es gibt zwar keinen Kohlendreck mehr, der Zusammenhalt im Ort ist jedoch auch verschwunden. Damals kannte jeder jeden, allein durch die Arbeit. Die Gartenstadt war eine Wohnsiedlung, in der die Arbeiter des Tagesbaus und der Brikettfabrik lebten. Inzwischen sind viele der Alten weggezogen, junge Leute sind gekommen, aber auch wieder gegangen. Sie kommen wegen der Arbeit und gehen wegen der Arbeit. Daher kennen sich die Nachbarn kaum untereinander. Trotzdem wohne ich noch immer gern hier – in unserer alten Wohnung in der Franz-Mehring-Straße.

2 Gedanken zu „Ohne die Kohle gäbe es mich gar nicht

  1. Ich habe mich sehr gefreut, dass die Vertreterin der Marga-Fanfaren anwesend war. Ich habe sogar etwas neues darüber erfahren.

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