Mein Leben für den Strom – Von heute auf morgen Betriebsabschnittsleiter

Die Geschichte von Jörg Hertel

Das aufstrebende erste Braunkohlenkombinat der Deutschen Demokratischen Republik, das BKK Lauchhammer, suchte 1961 Erkundungsingenieure. Da mein Vater soeben sein Geologie-Studium abgeschlossen hatte, zogen wir vom Dorf nach Lauchhammer in eine Neubauwohnung.
Nein, warmes Wasser gab es noch nicht in Neustadt I, aber zweieinhalb Zimmer waren damals enorm. Ofenheizung und Deputat-Kohle, kostenlose Kohle. Und fast dichte Fenster.

Ich war der Älteste von vier Geschwistern. Meine Mutter bekam als Lehrerin Arbeit in der Zille-Schule, die sich in Blickweite unserer Wohnung befand. Ideal. Die Infrastruktur stimmte, die Stadtlinie fuhr, der Strom und das Brot waren billig. Typisches DDR-Leben. Das einzig Negative: Westwind! Dieser brachte den Dreck und Gestank von den Brikettfabriken und der Kokerei direkt zu uns. Unsere Wäsche mussten wir deshalb unten in der Waschküche waschen. In allen Neubaublöcken gab es Gemeinschaftswaschküchen. Jeder trug in ein Oktavheftchen ein, wann er waschen wollte. Vater heizte dann früh, bevor er zur Arbeit ging, den Waschkessel ein. Das klappte.

Bis zur zwölften Klasse besuchte ich die Schule und arbeitete in den Ferien im Bergbau. Beim ersten Mal wurde ich der Hofkolonne zugeteilt, wo ich schubkarrenweise Kohlendreck entsorgte und andere Reinigungsaufgaben erledigte. Wir Ferienarbeiter bekamen für zwei Wochen hundertfünfzig Mark Lohn in der Lohngruppe drei. 1968 oder 1969 muss das gewesen sein. Danach wurde die Lohngruppe drei abgeschafft.

In den zwei Monaten, die ich zwischen Schule und Studium überbrücken musste, arbeitete ich als Hilfsmaschinist auf dem Bagger im Tagebau Klettwitz. Meine erste Baggererfahrung. Sehr gut, dreischichtig, da gab es noch mehr Geld. Nach anderthalb Jahren Armee und einem abgebrochenen Studium an der Technischen Universität in Dresden ging ich zurück in die Kohle, in die Elektroabteilung der Hauptwerkstatt Süd.

In Dresden hatte ich schnell festgestellt, dass mir das Studium der Elektro- und Informationstechnik zu theoretisch war. Ich wollte in die Praxis, ließ mich exmatrikulieren und wechselte an die Ingenieurschule für Bergbau und Energetik in Senftenberg. Der Betrieb und die Hauptwerkstatt freuten sich. Anstelle eines Diplomingenieurs, der sich mehr für die Forschung und weniger für die Praxis interessierte, bekamen sie einen handfesten Bergbauingenieur. 1979 ging es für mich als Betriebsingenieur im Netzbetrieb richtig los. Der Netzbetrieb betreute die Elektronetze, alles, was an Strippen hing und hochspannungsmäßig größer als 15000 Volt war. Dazu gehörte die Kokerei. Jede Woche durfte ich mindestens einen Tag in die Schalthäuser der Kokerei und sah somit nur ihre schönsten und saubersten Seiten; Die Schalthäuser waren poliert wie die gute Stube. Denn jedes Stäubchen, jedes Körnchen konnte Fehlauslösungen hervorrufen.

Am 1. Oktober 1980 entschied der mächtigste Wirtschaftsmann der DDR, Günter Mittag, über eine Neustrukturierung der Wirtschaft. Alles, was mit der Kohlegewinnung zu tun hatte, kam zum Braunkohlenkombinat Senftenberg; alles, was zur Veredlung gehörte, kam zu Schwarze Pumpe. Unsere Abteilung wurde mitten durchgehackt.

Also spielten wir »Eene meene Muh, raus gehst du«. Als frisch ausgebildeter Ingenieur hatte ich am wenigsten zu sagen: »Du gehst raus in die Tagebaue, wir bleiben in den Fabriken.« Ich sagte: »Klar. Mach ich.« So wurde ich von heute auf morgen Betriebsabschnittsleiter, bekam zwei Meisterbereiche und die Verantwortung für die gesamte Energieversorgung der Tagebaue Klein- leipisch, Klettwitz und Klettwitz-Nord. Eine schöne Zeit, eine Lehrzeit.

Wir kümmerten uns um Strom. Dieser flößte den meisten Menschen Respekt ein, nur wenige hatten wirklich Ahnung von ihm. Auch der Tagebauleiter kam zum kleinen Hertel mit seinen fünfundzwanzig Jahren und holte Erkundigungen ein. Wir waren die Einspeiser, die Strom zur Verfügung stellten, damit die anderen arbeiten konnten. Ohne uns lief nichts. Zum Landesnetz hatten wir zwei 110-kV-Anbindungen und versorgten alle Bagger und die Abraumförderbrücken F 60 und F 45. Tag und Nacht, Sommer und Winter, erster und zweiter Weihnachtsfeiertag, wir waren immer abrufbereit.

Die Störungen kamen erfahrungsgemäß im Winter, wenn es fror. Dann wurden wir jungen Leute herausgefordert. Wenn es sein musste, blieben wir auch zwei Tage draußen und bastelten, bis die Bude wieder lief. War der Tagebau auch nur für ein paar Stunden richtig finster, bedeutete dies eine Beinahe-Katastrophe. Die einzige richtige Katastrophen stellte der Winter 1978/1979 dar. Eine Schneewand schob sich von der Ostseeküste kommend über die DDR hinweg. Innerhalb weniger Stunden fielen die Temperaturen rapide. Über zwei Wochen herrschten minus zwanzig Grad. Die Energieversorgung der Tagebaue, Brikettfabriken und Kraftwerke konnte nur mit außerordentlichen Mühen gewährleistet werden.

Von den 45 Leuten Belegschaft gehörte ich als Ingenieur nicht zu den zehn Bestverdienenden. Lohngruppe sieben bekamen nur die Vorarbeiter, die Fahrer der Förderbrücken erhielten sogar Lohngruppe acht. Als zusätzliche Vergünstigung kriegten wir sogenannten Bergmannsschnaps – »steuerbegünstigten Trinkbranntwein für Bergarbeiter« –, den Liter für 1,60 Mark. In den vier Wintermonaten gab es zwei Liter pro Monat, im Rest des Jahres monatlich einen. Die Arbeiter unter Tage und draußen bekamen jeweils das Doppelte. So stand es im Betriebskollektivvertrag. Der Bergmannsschnaps war praktisch, denn wir konnten ihn nicht nur trinken, sondern bei Frost in die Scheibenwaschanlage füllen. Neben dem Alkohol gab es in der Kokerei und der Brikettfabrik täglich für jeden einen Viertelliter Milch. Entgiftungsmilch sagten wir dazu.

In den Achtzigerjahren hatten wir endlich das Gefühl, alles in Ordnung gebracht und sämtliche Kabelschäden behoben zu haben. Da kam die Wende. Mir war klar, dass der nun einsetzende Umstrukturierungsprozess garantiert zugunsten der Rheinbraunkohleindustrie ausgehen würde. Die Brikettfabrik 64 produzierte Feinstkornbriketts in einer Qualität auf Weltniveau. Die Lausitzer Kohle und die Kohle aus Hambach besaßen fast die gleichen Parameter. Aber das spielte plötzlich keine Rolle mehr. Durch die Umstellung der Heizungen wurden insgesamt weniger Briketts gebraucht. Und die westdeutsche Bergbauwirtschaft war schlichtweg sehr gut organisiert. So wickelte dieTreuhandanstalt die Lausitzer Kohleindustrie ab. Von den ungefähr fünfzig Brikettfabriken, die es damals in unserem Gebiet gab, ist schließlich nur eine einzige geblieben.