Ich komme aus der Kohle

Die Geschichte von Konrad Wilhelm

Mein Geburtsjahr ist das Jahr der Grundsteinlegung der Kokerei: 1951. Mein Geburtsort befindet sich unweit davon. Zum zehnjährigen Jubiläum wollte man uns Kinder dieses Jahrgangs im Fernsehen zeigen. Mit Lehrer Augustin, eine Institution in Lauchhammer, übten wir, die Treppe rauf und runter zu gehen, bis es klappte – ein Minutenbild in der Aktuellen Kamera. Einer von uns fiel dennoch auf die Nase.

Christlich erzogen, feierte ich Konfirmation, keine Jugendweihe. Trotzdem kam ich zur Penne. Ich hatte das Glück, in die letzte Elektrikerklasse aufgenommen zu werden – eine reine Jungenklasse, Abitur mit Berufsausbildung, vier Jahre lang. Wir halten heute noch zusammen. In jedem Jahr gibt es ein Klassentreffen. Es war eine aufregende Zeit. Wir lernten richtig was, verbockten aber genauso viel Blödsinn. Ich mischte an vorderster Front in der Freien Deutschen Jugend und verschiedenen Schulgremien mit.

Unser Klassenlehrer Dr. Peter Wolfram war streng. Weil Jungs im Bergarbeiter- Ensemble fehlten, wurden wir verdonnert, dort einzutreten. Fast zehn Jahre sang ich im Ensemble. Jedes Wochenende war was los. Mein Abitur schloss ich mit Auszeichnung ab. Danach wollte ich in Freiberg an der Bergakademie Geologie studieren. Als ich für die Aufnahmeprüfung anreiste, empfing man mich: »Du machst Geophysik, du bist unter den fünfzehn Ausgewählten.« Ich hatte meinen Studienplatz sicher.

Unsere Truppe wurde als Aushängeschild der Bergakademie behandelt, als Hoffnungsträger. Wir trugen als einzige noch Studenten-Mützen, als es bei den anderen schon verpönt war. Im zweiten Studienjahr rezitierte ich im Übermut die biblische Geschichte der Erschaffung der Welt in der Fassung »Adam Adamowitsch und Eva Evanowna« vor der versammelten Studentenschaft. Davon hörte auch die Stasi. Umgehend war ich für die FDJ-Hochschulleitung und den Prorektor für Bildung politisch nicht mehr tragbar. Der FDJ-Sekretär und ich als sein Stellvertreter wurden vom Studium exmatrikuliert und lebenslang gesperrt. Sie wollten ein Exempel statuieren. Das las ich nach der Wende in meinen Stasi-Unterlagen.

Zum Glück hatte ich einen Facharbeiter- Abschluss in der Tasche. Ich ging zurück nach Lauchhammer in den VEB Braunkohlenveredlung als Elektriker in der Kokerei. Ein paar werte Genossen gaben noch eins drauf und ließen mich die dreckigsten Arbeiten machen. Im Nachhinein sage ich: Es war gut. Dadurch lernte ich den Laden richtig kennen, nicht nur die gesamten Band- und Aufbereitungsanlagen, sondern auch die Menschen. Ich begriff, dass alle nur mit Wasser kochten. Unter den Kollegen gab es einige, die mir halfen und mir ihre Tricks verrieten. So fitzte ich mich in die Materie ein und hielt es einige Jahre aus.

Ich überlegte, welche Zukunftsperspektiven sich mir boten. Der Zufall kam mir zu Hilfe: 1972 begannen die Vorbereitungen für die Weltfestspiele. Jedes Kombinat delegierte Mitarbeiter zur Vorbereitung nach Ost-Berlin. Ein Kandidat unseres Kombinats flog aus dem Programm und innerhalb von fünf Minuten musste ein neuer her. Ich überlegte: Bleibst du in diesem Dreck oder gehst du nach Berlin? Ich entschied: Ich gehe nach Berlin!

So kam ich zum obersten Sportchef Ewald. Der fragte als erstes: »Wo kommst’n her? Aus dem Konsum oder aus der HO?« Ich sagte: »Nee, aus der Kohle.« »Um Gottes Willen! Na warte mal, bis ein Ersatz kommt, dann schicken wir dich wieder nach Hause.« Meine Aufgabe bestand darin, die Versorgung der gesamten Sportveranstaltung zu kalkulieren und zu organisieren. Es kamen elftausend Sportler. Ich war 21 Jahre alt und hatte keine Ahnung. Letztlich ließen sie mich machen. Man muss sich das vorstellen, ich kam von ganz unten dorthin, kriegte einen Wolga mit Chauffeur zugeteilt und diese riesige Verantwortung!

Ich lernte viel, vor allem vom Stab der Organisation, machte Erfahrungen, bewies Gespür. Das Ding funktionierte, trotz Jassir Arafat, trotz Sabotageversuch, trotz Tod von Walter Ulbricht am 1. August 1973. Es war die Schule für mein Leben.

Die Genossen in Berlin meinten: »Das kann doch nicht wahr sein, dass du keinen Studienplatz kriegst, da bei euch in der Provinz!« Durch ihren Einsatz konnte ich mich in Zittau an der Ingenieur-Hochschule für Energetik bewerben – und bekam einen Studienplatz für Elektrotechnik. Das Studien- und Hausverbot für die Bergakademie Freiberg blieb jedoch bis nach der Wende bestehen. Auf nach Zittau!, hieß es – allerdings erst, nachdem ich achtzehn Monate auf einem Schießplatz der NVA meine Pflicht abgeleistet hatte.

In meinem ersten Studienjahr tagte der Konvent, der den Hochschulsenat wählte. Zum Senat gehörten neben dem Rektor die Vertreter der Hochschulleitung. Ich wurde als Studentenvertreter gewählt und war nun zuständig für die internationalen Verbindungen der Studentenschaft – und das, obwohl ich kein Parteimitglied war, eine miese Vorgeschichte hatte und fast meine gesamte Verwandtschaft im Westen lebte! Ich knüpfte viele wertvolle Verbindungen, lernte Leute kennen und erfuhr, was im Energiesektor vor sich ging. Ich erhielt das Wilhelm- Pieck-Stipendium, war dadurch relativ abgesichert und konnte ein wertvolles Forschungsstudium anschließen.

Als frisch gebackener Diplom-Ingenieur kam ich 1983 zurück in den Heimatbetrieb, zu Günter Knoblauch in die Abteilung Technologie. Ich sollte den kompletten Betrieb durchlaufen, alles an der Basis kennenlernen. Zuerst die Brikettpresse, dann die Kraftwerke, danach die Gasreinigung, die Rectisolanlage, etc. Es kam jedoch anders.

In der Brikettfabrik Plessa gab es im Jahr 1983, am 17. August um 7:20 Uhr, eine riesige Explosion, eine Staubverpuffung. Vier Menschen starben, viele wurden verletzt. Die Schlote bildeten einen Trümmerhaufen.

In der Folge wurde eine Grundsatzabteilung gebildet, die sämtliche Entscheidungen der Betriebsdirektion vor- und nachbereitete. Sie gab die Richtung für den Betriebsdirektor vor und war maßgebend für die gesamte Entwicklung und Perspektive des Betriebes. Als plötzlich ein Fachdirektor verstarb, für den der Kaderersatz noch nicht geregelt war, hieß es zum 1. Mai: »Du machst das. Wir haben keinen anderen.« So rutschte ich schwuppdiwupp in die Position des Fachdirektors beziehungsweise des Leiters für Arbeits- und Produktionssicherheit.

Dann sollte das neue Kraftwerk angefahren werden – ein ganz neues Kraftwerk hier in Lauchhammer. Der Dampferzeuger 1 war fertig. Zur Inbetriebnahme brauchte eigentlich bloß auf den Knopf gedrückt werden. Weitere Dampferzeuger befanden sich im Bau. Um die Inbetriebnahme vorzubereiten, das Personal zu rekrutieren und zu schulen, wurde ein weiterer stellvertretender Betriebsdirektorposten geschaffen. Auf diesen dritten Stellvertreterposten wurde ich am 1. Mai 1989 berufen.

Im Juni fiel der Betriebsdirektor aus, der zweite Stellvertreter folgte und dann auch noch der erste – aus gesundheitlichen Gründen. Auf einmal stand ich allein da. Jetzt ging es nicht mehr darum, das neue Industriekraftwerk anzufahren. Ein Betrieb mit fast achttausend Leuten musste geleitet werden. Und das Mitte 1989, während jede Woche ein paar mehr Leute fehlten, die über Ungarn abgehauen waren. Auf dem Betriebsgelände wurde schon die bundesdeutsche Fahne gehisst.

Der Generaldirektor Dr. Herbert Richter nahm mich im August 1989 zur Seite: »Du wirst vom dritten Stellvertreter zum amtierenden Betriebsdirektor berufen.«

Am 01. Oktober 1989 übernahm ich den Posten offiziell, mit allen Rechten und vor allem Pflichten. Bald danach kam die Grenzöffnung. Von dem Tag an ging es drunter und drüber. Es verstrich kein Tag ohne Hiobsbotschaft, kein Tag ohne schwerwiegende Entscheidungen, für die oftmals gar keine Entscheidungsgrundlage vorhanden war.

Als wäre das nicht genug Aufregung, fiel der Abschluss meiner Dissertation in diese Zeit. In der Rückschau frage ich mich, wie ich das alles geschafft habe. Mit Hilfe meiner Frau stellte ich in vielen Nachtstunden meine Doktorarbeit fertig und reichte sie in Zittau ein. Am 2. Oktober 1990, dem letzten Tag der DDR, erhielt ich die Mitteilung über den Verteidigungstermin und keinen Monat später, am 29. Oktober, verteidigte ich meine Arbeit in der Bundesrepublik. An diesem Erfolg konnte ich mich in dieser verrückten Zeit persönlich aufrichten. Der Familie sei gedankt, dass sie es mitmachte!

Im gleichen Jahr begann in Lauchhammer das Theater mit der Treuhandanstalt. Bis zur Abwicklung wurde es immer dubioser. Wir stritten lange und oft mit den Verantwortlichen, meist aber auf verlorenem Posten. Gegen die Auftragsniedermacher und die wie Heuschrecken über uns herfallende Konkurrenz blieb uns keine Chance.

Das Schlimmste war, dass wir keine zufriedenstellenden Lösungen für die vielen Menschen finden konnten, die in die Arbeitslosigkeit gehen mussten. So ging es für uns zu Ende mit der Kohle. Und nur folgerichtig übernahm ich die Verantwortung im Traditionsverein Braunkohle Lauchhammer e.V., um wenigstens einen ganz kleinen Teil dazu beizutragen, dass der Bergbau in Lauchhammer und unsere Arbeit nicht ganz in Vergessenheit geraten.