Der Gästeführer

Geschichte von Erhard Reiche

Ich führe Gäste zu den Biotürmen in Lauchhammer. Ich mache das, weil ich es für notwendig erachte, mitzuteilen, was in der Vergangenheit passierte – in meinem Leben und in der Betriebsgeschichte. Was unsere Generation und die meiner Eltern leistete, kann man gar nicht genug würdigen.

Im Zweiten Weltkrieg wurde unsere Industrie kaum zerstört, alle Brikettfabriken und Kraftwerke blieben erhalten.

Dann kam die Spaltung Deutschlands und wir mussten die Reparationen an die Sowjetunion leisten. Das Chemo-Werk wurde komplett demontiert, ebenso die Brikettfabrik 64. Da blieb überhaupt nichts mehr. In anderen Betrieben wurden die modernen Anlagen abgebaut und in die SU gebracht.

Dazu kam das Embargo. Der Westen lieferte keine Steinkohle. Doch wie sollten wir unsere Stahlwerke betreiben? Stahl wurde dringend gebraucht, um das Land aufzubauen. In dieser Not beauftragte man die Bergakademie Freiberg zu erforschen, wie man aus Braunkohle Koks herstellen kann. In kürzester Zeit wurde beschlossen, eine Kokerei zu bauen. Prof. Pilkenroth forschte noch, während Prof. Rammner schon baute. Vom Baubeginn bis zum ersten Koksabstich dauerte es nur acht Monate und vierzehn Tage. Das ist eine heroische Leistung und stellte eine Weltneuheit dar. Wenn ich westdeutsche Gäste führe, können die das nur schwer glauben. Doch wenn ich es erläutere, sagen sie auf dem Stückchen von den Biotürmen zum Parkplatz: »Von dem, was Sie erzählen, haben wir einfach nichts gewusst.« Darum ist es so wichtig, über die Vergangenheit zu erzählen. Wer seine Vergangenheit leugnet, hat keine Zukunft.

Ich genoss eine sehr gute Ausbildung. Mein Vater lernte Maurer und kam 1934 nach Lauchhammer zur Firma Buchholz, um im Kraftwerk Lauchhammer Ost als Kesselmaurer zu arbeiten. Ich wurde 1936 zu Hause geboren, in der Elsterwerdaer Straße 36 in Mückenberg. Als ich fünf Jahre alt war, starb meine Mutter an Tuberkulose.

An der Schule hatte ich keinen Spaß. Ich wollte Musiker werden, nur konnte mein Vater das nicht bezahlen. Also bewarb ich mich nach der achten Klasse als Betriebsschlosser im Braunkohlenkombinat »Friedenswacht«. Gegenüber der Kokerei stand ein Kühlturm, darin war die Lehrwerkstatt.

Von der Aufnahmekommission wurde ich gefragt, was eine Schublehre sei. »Das ist eine Art Kommode mit verschiedenen Schüben«, gab ich zur Antwort. Ich hatte null Ahnung. Doch sie nahmen mich.

Als Geselle ging ich zum Betriebsleiter der ältesten Brikettfabrik 66: »Ich will als Schlosser arbeiten.« »Das geht in Ordnung, aber Sie müssen alle Bereiche durchlaufen, bevor ich Sie einsetze.« Ich hatte das Glück, in die Schicht von Meister Krengel zu kommen. Am ersten Tag zeigte er mir die Presse und erzählte mir alles darüber. Dann sagte er: »Ich komme kurz vor Feierabend wieder, und will wissen, was du gelernt hast.« Er kam dreiviertel zwei: »Nu, was hast du gelernt?« Da ich schnell begriff und ein gutes Gedächtnis hatte, erzählte ich ihm fast wörtlich, was ich gehört hatte – mit meinen Ergänzungen. Am vierten Tag durfte ich bereits selber Briketts pressen. Meine Eignung wurde mit der Ernennung zum Jungaktivist ausgezeichnet.

Obwohl ich nicht wieder zur Schule wollte, bearbeitete mich Meister Krengel so lange, bis ich 1953 das Aufnahmeformular für die Ingenieurschule Senftenberg unterschrieb.

Am 17. Juni 1953 hörte ich übers Radio von einem großen Aufstand. Ich sagte zu meinem Vater: »Die machen Aufstand, ich gehe heute nicht auf Nachtschicht.« Er aber insistierte: »Du gehst zur Nachschicht!« Also ging ich. Als ich ankam, sah ich Birkenknüppel in der Brikettfabrik stehen. Das war komisch. Die Truppe von Bürgern, die zur 66 kam, war unzufrieden. Angetrieben durch ideologische Beeinflussung aus dem Westen wollten sie mit spontanen, teils gewaltsamen Aktionen die politischen Machtverhältnisse in der DDR ändern. Sie hatten dem Betriebsleiter ein Stalinbild über den Kopf gedonnert – der war eingerahmt – und bedrängten ihn, die Brikettfabrik sofort anzuhalten. Er weigerte sich. Man kann eine Brikettfabrik nicht mit einem Knopfdruck anhalten. Dann brennt sie lichterloh. Wir Werktätigen vertrieben sie mit Knüppeln. Wir Kumpels konnten es nicht gutheißen, dass irgendwelche Leute mit Gewalt unsere Arbeitsplätze zerstören.

Am nächsten Tag stand ein Panzer vor der Einfahrt in der 66 und es ging alles seinen geregelten Gang.

Im September 1953 begann ich mein Ingenieurstudium für Brikettieren und Koksveredelung in Senftenberg. Am Ende schrieb ich meine Ingenieurarbeit in der Brikettfabrik Plessa, die bis 1945 ein nationalsozialistischer Musterbetrieb gewesen war. Nach Abschluss des Studiums hatte ich als Jungingenieur Probleme, dort Fuß zu fassen. Die Belegschaft des ehemaligen Musterbetriebes war diszipliniert. Aber der Betriebsleiter und die alte Meisterschaft taten alles Mögliche, um uns Jungingenieure zu vertreiben. Sie versuchten sogar, mir einen Unfall in die Schuhe zu schieben. Doch ich blieb und wurde 1957 Betriebsleiter. Mit dem jungen Werkleiter kam ich gut aus. Der hatte Ahnung vom Tagebau und ich war Brikettierer. Wir ergänzten uns. Durch organisatorische Umstellungen und die sehr gute Mitarbeit der Kumpel erfüllten wir den Plan ab dem ersten Tag – während meinem Vorgänger das acht Jahre lang nicht gelungen war.

Bald wurde der junge Werkleiter abgelöst, weil er seine Tochter konfirmieren ließ. Das muss man sich mal vorstellen.

Als Betriebsleiter bekam ich 895 Mark brutto und war der Meinung, ich verdiene gute Brötchen. Bei einer Feierlichkeit lästerten die anderen: »Na du kannst dir’s ja leisten, du hast ’nen Auto.« Ich fühlte mich angegriffen und verlangte: »Passt mal auf, ich habe meinen Gehaltsbeleg hier, zeigt mal euren.« Alle legten den Beleg auf den Tisch und wir verglichen. Ich bekam am wenigsten. Der LPG-Bauer, der als einziger nichts vorgezeigt hatte, grinste: »Ihr armen Hunde.« Das war ein Mangel, dass die technische Intelligenz der DDR so schlecht bezahlt wurde.

1959 kam der abgesetzte Kombinatsdirektor vom Braunkohlenkombinat Lauchhammer (BKK) als Werkleiter nach Plessa und wurde mein unmittelbarer Vorgesetzter. Mit dem konnte ich nicht. Ich warf das Handtuch.

So studierte ich noch mal ein dreiviertel Jahr und wurde Fachingenieur für Arbeitsschutz. 1964 begann meine Tätigkeit als Sicherheitsinspektor im BKK Lauchhammer. Ich war zuständig für die Großkokerei und überwachte dort die gesamte Arbeitssicherheit.

Wir Sicherheitsinspektoren sorgten dafür, dass die gesetzlichen Bestimmungen des Gesundheits-, Sicherheits- und Arbeitsschutzes bewusst und freiwillig eingehalten wurden. Das war wichtig: Bewusst und freiwillig. Es hatte keinen Zweck, mit der Peitsche hinter den Werktätigen zu stehen. Wir mussten so auf sie einwirken, dass sie sich richtig verhielten, wenn Gefahr bestand. Das heißt, wir hatten einen Erziehungsauftrag und einen Kontrollauftrag.

Ich war noch nicht lange in der Kokerei und kontrollierte das Tanklager. Es war derart verdreckt, dass ich mir den Abschnittsleiter unter vier Augen vorknöpfte. Der sah keinen Handlungsbedarf. Da verständigte ich unseren Hauptabteilungsleiter und schlug ihm vor, eine Kommissionssitzung einzuberufen. Den Abschnittsleiter konnten wir nicht überzeugen. Er bekam einen strengen Verweis. Trotzdem kümmerte ich mich um ihn. Einmal fragte er: »Haben Sie mich auf dem Kieker?« Ich sagte: »Nein, aber gucken Sie mal dort, das muss doch nicht sein. Wenn ein Feuer ausbricht, ist das Tanklager hin!« Es vergingen drei Wochen, da brannte es am Tank 16. Gleich am nächsten Tag kam der Abschnittsleiter zu mir. Er sagte: »Aufgrund Ihrer Beharrlichkeit habe ich mein Tanklager gesäubert. Wenn das noch so dreckig gewesen wäre, hätte es dort auch gebrannt. Ich bedanke mich.«

1981 gab es strukturelle Veränderungen. Die Braunkohlenveredlungsbetriebe wurden zusammengefasst. Lauchhammer kam nach Schwarze Pumpe und die Tagebaue zum BKK Senftenberg. Damit wurde in Lauchhammer der Betrieb mitten in zwei geteilt. Das war ein Fehler, wir bekamen dadurch viele Probleme.

Nach der Wende stellte man uns hin, als hätten wir im Sandkasten gespielt. Wie wir behandelt wurden war diskriminierend. In der Hochschule Cottbus wurden Anpassungsveranstaltungen organisiert. Einmal in der Woche lud ich das Auto mit Sicherheitsingenieuren voll und fuhr dorthin. Als erstes erläuterte ein Diplomingenieur, der frisch von der Schule kam, die gesetzlichen Bestimmungen der Bundesrepublik. Das war für uns interessant. Nach zwanzig Minuten hatten wir begriffen: Wir hatten in der DDR über Bürokratismus geschimpft, aber da kannten wir die BRD-Bürokratie noch nicht! Am nächsten Mittwoch las ein anderer Diplomingenieur uns vor, wie der Arbeitsschutz in der Bundesrepublik betrieben wurde. Das hörten wir uns zehn Minuten lang an. Einer meldete sich schließlich: »Was Sie da vorgelesen haben, das möchte ich mal erläutern«, und hielt mit Bravour aus der Lameng einen Fünf-Minuten-Vortrag. Das war für den Diplomingenieur peinlich. Ich bedauerte ihn. Kaum las er weiter, meldete sich wieder einer: »Können Sie das mal erläutern?« Nichts. In der Pause gingen wir zum Veranstalter: »Wir sind seit dreißig Jahren auf dem Gebiet tätig. Was ihr hier veranstaltet, geht nicht.« Der Lehrgang wurde abgeblasen. In den nächsten Anpassungslehrgängen saß ich meist neben dem Leiter des Lehrgangs. Ich wurde oft gefragt: »Wie habt ihr das gemacht?«

Der Leiter des Bergamtes für unser neues Bundesland sagte: »Wissen Sie, ich musste Ihre Arbeitsschutzgesetze studieren. Ich habe die DDR-Gesetze als hervorragend empfunden. Sie waren eindeutig, kurz, prägnant. Doch einen Mangel hatten sie: Da waren keine Lücken, die der Rechtsanwalt nutzen konnte. Wenn ihr armen Hunde was verbockt hattet, musstest ihr das ausbaden.«

Bei der nächsten Anpassung wurden wir gut bewirtet und behandelt. Sie hatten mitgekriegt, dass wir Fachleute waren.

Nach einer Strukturänderung wurde ich als Sicherheitsingenieur für Kokereien nicht übernommen. Als leitenden Sicherheitsingenieur für Brikettfabriken hingegen stellte mich der Produktionsleiter ein. Das war gut. Zu uns kamen Leute aus den alten Bundesländern, die sich erkundigten, wie wir unseren Arbeitsschutz organisierten. Sie waren angenehm überrascht.

Mit der »Abwicklung«, der Liquidierung der Braunkohlenindustrie 1991, wurde auch ich endgültig abgewickelt und in Altersübergang geschickt. Ich konnte das nicht verstehen. Mit 54 nicht mehr gebraucht zu werden, das war schlimm für mich.

Ich bekam schwere gesundheitliche Probleme, sollte einen Herzschrittmacher kriegen. Ich habe »gedickscht«, das sagt man im Sächsischen, wenn einem alles nur noch egal ist.

Fünfzehn Jahre hat es gedauert, bis ich mich wieder für etwas begeistern konnte: Auf seinem Geburtstag überredete mich mein ehemaliger Vorgesetzter und Geschäftsführer des Braunkohlenkombinats, Dr. Konrad Wilhelm, mich in seinem Traditionsverein zu engagieren.

Seitdem bin ich Gästeführer. Ich setzte mich sogar noch einmal auf die Schulbank und machte einen Lehrgang.