Leben mit der Grube

Die Geschichte von Ingrid Radochla

2. Preis im Wettbewerb „Die besten Lausitzgeschichten“ (Einzelgeschichte)

Streng genommen bin ich eine Zugezogene. Anfang 1945 floh meine Familie aus Florsdorf, im damaligen Landkreis Görlitz. Heute heißt der Ort Zarska Wjes und liegt in Polen. Noch kurz vor Beginn unserer Flucht wurde ich, unter Kanonendonner, am 11. Februar getauft. Mein Vater konnte nicht an der Taufe teilnehmen, da er seit meiner Geburt keinen Fronturlaub mehr erhalten hatte.
Meine Großeltern und Eltern verloren durch den Zweiten Weltkrieg alles. Wir zogen mit dem Flüchtlingstreck nach Westen und kamen bei Bekannten in Hohenstein-Ernstthal unter. Dort blieben wir, bis uns der Vater meiner Mutter im Sommer 1945 zu sich nach Geierswalde holte. Bei ihm fanden wir in diesen wirren Zeiten ein neues Zuhause. Ich erinnere mich nicht an die Flucht, kenne aber die Erzählungen meiner Großeltern, meiner Mutter und meines vier Jahre älteren Bruders Dieter. Es muss schlimm gewesen sein. Wir marschierten an Dresden vorbei, als es gerade bombardiert wurde. Meine Mutter erzählte, dass sie die Stadt am Horizont tagelang brennen sah.

In Geierswalde wuchsen wir mit den Kohlegruben und Kippen um den Ort herum auf und gewöhnten uns an die ständige Veränderung der Umgebung. Aus der Richtung Laubusch kommend wanderte die Grube »Erika« auf uns zu. Anfang der Fünfzigerjahre bestand die einzige Verbindung zwischen Geierswalde und Laubusch aus einem einfachen, geschlämmten Weg neben den Gleisen der Grubenbahn – eine regelrechte Wüstenstraße. Mir kam es so vor, als läge Laubusch im Ausland, so weit weg war es und durch die Einöde von uns getrennt. Im Mai 1951 fuhren wir mit Fahrrädern zur Hochzeit meines Onkels Max. Ich freute mich ganz besonders auf das Ereignis, denn ich sollte in einem schönen langen Kleid die Blumen streuen. Leider war mein Blumenstreukleid in Geierswalde vergessen worden, was mich sehr traurig machte. Mein Onkel Hans fluchte zwar, als er die Strecke auf dem Sandweg nochmals zurücklegte, aber er holte das vergessene Kleid, um mir eine große Freude zu bereiten. Ich war glücklich und dankbar, denn in diesem Kleid fand ich mich besonders schön.

1953 begann nordwestlich von Geierswalde der Aufschluss des Tagebaus Koschen. Dazu wurden die riesigen Bagger und Förderbrücken dorthin umgesetzt. Ein beeindruckendes Spektakel, das ich mir als Kind nicht entgehen ließ. Langsam wanderte die Grube auf unseren Nachbarort Scado zu. Zwischen Scado und Geierswalde existierte seit jeher eine enge Verbindung. Die Kinder aus Scado gingen mit uns in die Schule in Geierswalde, ihre Toten begruben die Scadoer auf dem Geierswalder Friedhof. Nun erzählten wir in der Grundschule: »Scado ist bald weg. Bald frisst der Bagger das Dorf.«
Erst 1964 wurde der Ort endgültig geräumt. Bis dahin konnten wir uns alle darauf einstellen, dass Scado verschwindet. Nach und nach verließen die Bewohner ihre Höfe und Häuser. Nur eine einsame Seele wollte nicht weichen. Zuletzt lebte dieser Mann für einige Monate in seinem Haus ohne Strom und Wasser. Schließlich eskortierte ihn die Polizei von seinem Grundstück. Anschließend wurde das Haus gesprengt.

Bevor Scado endgültig verschwand, holten sich die Dorfbewohner aus den alten Häusern Baumaterialien. Meine Eltern bauten ihr Haus in den Sechzigerjahren zum Teil aus »Sca- doer« Steinen. Man könnte sagen, die Orte sind somit auf ganz besondere Art und Weise miteinander vereint. Einige ehemalige Scadoer leben heute hier im Ort als unsere Nach- barn und auch das Scadoer Kriegerdenkmal erinnert in Geierswalde an die Gefallenen und damit an die Schrecken des Krieges.

Heute wehren sich viele Menschen gegen die Abbaggerung der Lausitzer Dörfer. Auf elektrischen Strom will jedoch keiner verzichten! Aber denen, die wegen der Braunkohleförderung umgesiedelt werden, geht es gut. Sie können all ihr Hab und Gut an ihren neuen Wohnort mitnehmen, sie werden finanziell entschädigt und bekommen neue Häuser gebaut. Wenn ich ihre Situation mit der Flucht meiner Familie vergleiche, fällt es mir schwer, ihre Beschwerden nachzuvollziehen: Meine Großeltern hatten 1910 geheiratet, sich ein Haus – eine Bäckerei – in Florsdorf gekauft und sich ihre Existenz aufgebaut. Später wurde die Backstube vergrößert, das Haus umgebaut und erweitert. Erst 1936 schlossen sie die Bauarbeiten ab. Nicht einmal zehn Jahre später musste meine Familie ihre Heimat verlassen. Es ist immer schlimm, wenn jemand Haus und Heim verliert! Aber anders als die Flüchtlinge können sich die Tagebau-Umsiedler langfristig vorbereiten. Sie können sogar noch Fotos von ihrem Haus machen und sich auf den Verlust einstellen. Meine Familie durfte das nicht. Sie gingen – lediglich mit ein paar Taschen – von heute auf morgen in eine ungewisse Zukunft.

Ich selbst lebte ab 1963 in Sielow bei Cottbus und arbeitete als Lehrerin. Aus Geierswalde kannte ich seit frühester Kindheit eine zentrale Wasserversorgung. Durch den Tagebau fiel der Grundwasserspiegel so tief, dass kein Brunnenschacht ihn je erreicht hätte. Deshalb versorgten Wasserleitungen die Häuser. Als ich das Zimmer meiner Wirtin in Sielow betrat, fiel mir sofort auf, dass auf dem Schränkchen zwei Eimer und auf der Kommode eine Waschschüssel standen. Einen Wasserhahn fand ich nicht. Vielmehr besaß jedes Haus im alten Sielower Dorfkern seinen eigenen Brunnen. Manche hatten sich eine Leitung in ihre Küche gelegt, um nicht die schweren Eimer schleppen zu müssen. Auf fließendes Wasser zu verzichten, stellte für mich eine große Herausforderung dar.

Im Jahr 1965 heiratete ich meinen Mann Karl-Heinz und zog vor der Geburt unseres ersten Kindes wieder nach Geierswalde. Meine Schwiegereltern lebten in Dörrwalde bei Großräschen und wir besuchten sie oft mit den Kindern. Da die Grube Koschen inzwischen immer weiter wuchs, verlängerten sich die Fahrwege von Jahr zu Jahr. Fuhr ich noch Anfang der Sechzigerjahre nur zwölf Kilometer bis Dörrwalde, waren es in den Siebzigern schon zwanzig. Straßen wurden noch häufiger umgesetzt als Dörfer und von der Grube verschluckt. Die quietschenden Bagger gruben sich näher an den Ort heran. Staub lag in der Luft und machte das Wäschewaschen zum Glücksspiel. Wenn ich die Windeln meiner Kinder wusch, lernte ich, auf die Windrichtung zu achten, ehe ich sie auf die Leine hängte.

Schließlich war 1972 auch der Tagebau Koschen ausgekohlt. Ab 1973 wurde das Restloch mit dem Wasser der Schwarzen Elster geflutet. Die Behörden erklärten unseren See zum Sperrgebiet, weil niemand wusste, ob es nicht zu Veränderungen im gekippten Erdreich und zu gefährlichen Rutschungen kommen könnte. Zudem stank das Wasser in der ersten Zeit und die Badehosen und Badeanzüge färbten sich braun. Trotzdem gingen viele Einwohner schon baden. Als Lehrerin musste ich Vorbild für die Kinder sein. Deshalb fuhr meine Familie zum Schwimmen an den Senftenberger See.

Bis zur Jahrtausendwende dauerte es, ehe wir den Geierswalder See offiziell nutzen durften. Heute ist das Wasser nicht mehr braun. Im Gegenteil. Es hat eine sehr gute Badewasserqualität. Seither gehe ich hier regelmäßig schwimmen. Direkt vor unserer Haustür liegt nun ein attraktiver Badesee und wir wohnen in Geierswalde in einem Ort, in dem andere Leute gern Urlaub machen.

2 Gedanken zu „Leben mit der Grube

  1. Sehr interessanter Artikel. Hoffe Sie veröffentlichen in regelmäßigen Abständen solche Artikel dann haben Sie eine Stammleserin gewonnen.Vielen Dank für die tollen Informationen.
    Gruß Sandra

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