Kampf um den Geierswalder See

Geschichte von Karl-Heinz Radochla

Ich wurde 1944 geboren und verbrachte meine Kindheit auf dem Grundstück meines Großvaters in Dörrwalde. Mein Vater fand als Tischler nach dem Krieg keine Arbeit. Also ging er in den Tagebau »Impuls« und arbeitete dort als Kipper – bis zu seinem Tode 1953. Da war ich neun Jahre alt und das älteste von fünf Kindern. Meine Mutter versorgte uns gemeinsam mit meinem Großvater. Er hatte eine kleine Landwirtschaft, die zum Überleben beitrug. Als Großvater 1957 starb, war meine Mutter allein. Ich musste, soweit das ging, die Vaterrolle übernehmen.

Wenn unsere Mutter nicht zu Hause war, hatte ich auf meine Geschwister aufzupassen. Dabei kommandierte ich sie herum, denn für ihr Fehlverhalten zog unsere Mutter mich zur Rechenschaft. Ich versuchte, den Laden in Schwung zu halten. Wenn ich in die Schule ging, gab mir meine Mutter einen Zettel mit, auf dem stand, was am Nachmittag zu erledigen war: Kühe an- spannen, den Boden beackern, Heu einfahren. Den riesigen Heuwagen von der Wiese zum Hof zu fahren, forderte meine Brüder und mich besonders heraus.

Als einmal ein Gewitter aufkam und die Kuh samt Heuwagen mit meinen Geschwistern durchging, kippte das schwere Gefährt einfach um. Zum Glück ohne Nachwirkungen. Meine Mutter besprach ihre Probleme mit mir und erwartete Unterstützung. Sie hatte sonst niemanden. Bat sie meinen Onkel, der eine größere Landwirtschaft in Sauo betrieb, um Hilfe, empfahl er ihr: »Gib die vier Jungs ins Heim.« Das wollte sie nicht und weinte, wenn sie es mir erzählte.
Die Drohung setzte mich unter einen Wahnsinnsdruck. Der stählte mich fürs Leben!
Nach der achten Klasse musste ich, um schnell Geld nach Hause zu bringen, die Schule beenden. Ich erlernte meinen Wunschberuf und arbeitete ab dem 1. September 1961 als Elektromonteur im Kraftwerk »Sonne«.

Da begann meine wildere Jugendzeit. Mit Freunden aus der Schule fuhr ich zum Tanz auf die Dörfer. Dort spielte mein Schulfreund Karl-Heinz Meyer mit seiner Tanzkapelle »Weiße Bä- ren«. Wenn wir mit dem Fahrrad nach Geierswalde zum Schwoof fuhren, führte der kürzeste Weg auf der alten Straße über den Bahnhof Bahnsdorf an Scado, Rosendorf und Sorno vorbei. Der Bahnhof wurde Anfang der sechziger Jahre verlegt, die Dörfer vom Tagebau abgebaggert.

Mit dem Tagebau Koschen kamen Ende der Sechzigerjahre die Bagger und der Staub zu uns nach Geierswalde – direkt vor die Haustür. Der Tagebau war von 1955 bis 1972 aktiv. Meine Frau, die ich 1965 heiratete, schimpfte, wenn die Windeln auf der Wäscheleine vollstaubten. Im Sommer legten die großen Bagger die Kohle frei. Im Winter, wenn größerer Bedarf be- stand, wurde die Kohle herausgeholt und ins Kraftwerk gebracht. Dadurch dauerte die Ausbaggerung relativ lange.

Im nahegelegenen Tagebau Niemtsch war sie bereits abgeschlossen. Das Rest- loch wurde ab 1967 planmäßig ge u- tet. Am 1. Juli 1973 fuhren meine Frau, meine Kinder und ich zur Eröffnung des ersten Strandabschnitts Groß- koschen des hier entstandenen Senftenberger Sees. Das Naherholungsgebiet am gefluteten Tagebau wurde eingeweiht. Was für eine Veränderung der Landschaft! Doch der pH-Wert des Wassers betrug 2,7. Das ist sehr sauer und schlecht für die Haut. Wenn man im See badete, knirschten einem die Zähne. Hinzu kam der hohe Eisengehalt des Wassers. Er färbte die Badesachen braun. Nach kurzer Zeit konnten wir sie nicht mehr tragen. Trotzdem fuhren wir regelmäßig mit unseren drei Kindern an den Senftenberger See und hatten gemeinsam viel Spaß.

Auch unsere Tagebaugrube wurde für die Flutung vorbereitet. Die Kohleförderanlagen wurden demontiert, das Tagebaurestloch teilsaniert. Die Verantwortlichen hatten aus den Erfahrungen mit dem Senftenberger See gelernt. Sie verlegten Rohrleitungen von den Tiefbrunnen der Nachbartagebaue Sedlitz und Scado zum Tagebau Koschen und bauten hier eine Bekalkungsstation, die das saure Wasser mit Kalk anreicherte, um den pH-Wert zu verbessern. Ab 1973 wurde das Tagebaurestloch mit diesem Wasser und mit Wasser aus der Schwarzen Elster geflutet. 1979 erreichte der See seinen heutigen Wasserstand und die erste Planungsphase für eine touristische Zukunft begann.

Die Grube vor unserer Tür war zu et- was Neuem geworden: zu einem See. Die Pläne zur touristischen Gestaltung von Geierswalde wurden zu DDR-Zeiten nicht umgesetzt. Es fehlte das Geld. Nach der Wende dauerte es noch ein- mal über zehn Jahre, bis die LMBV, die Lausitzer und Mitteldeutsche Bergbau-Verwaltungsgesellschaft mbH, mit den Renaturierungs- und Sanierungsmaß- nahmen begann.
Als ich 1990 in den Gemeinderat kam, stellten wir bei der BVVG, der Bodenverwertungs- und -verwaltungs GmbH, einen Antrag zur Übertragung eines Drittels der Seefläche und der angrenzenden Bodenflächen an die Gemeinde. Wir bekamen keine Antwort.
Der Gemeinderat Geierswalde beschloss 1993, den Tagebau Koschen in »Geierswalder See« umzubenennen. Es vergingen Jahre, bis wir den Namen durch alle Instanzen geboxt hatten. Diesen Prozess konnten wir erst 2004 abschließen. Eigentümer des Sees ist weiterhin die LMBV.
Geierswalde liegt zwar in Sachsen, die Landesgrenze zu Brandenburg geht jedoch durch den See. 1991 begann das zuständige Bergbauunternehmen mit den Anliegergemeinden einen Sanierungsplan für den brandenburgischen Teil zu erstellen. Dort liefen die Planungsprozesse schneller als bei uns. Als stellvertretender Bürgermeister wurde ich vom Gemeinderat in den Brandenburgischen Braunkohlenausschuss delegiert.

Ich hoffte, den Sachsen die Pistole auf die Brust setzen zu können, wenn sie begriffen, dass die Entwicklung unter brandenburgischer Aufsicht schneller voranging. Auch 1992, als ich bereits Bürgermeister war, tat die sächsische Seite nichts, um mit der Erstellung des erforderlichen Sanierungsrahmenplanes zu beginnen. Doch ich gab nicht auf.
Um Druck auszuüben, organisierte ich eine Einwohnerversammlung und lud den Landrat, die zuständigen Bundes- tags- und Landtagsabgeordneten sowie Planungsbehörden ein.

Wir Geierswalder drohten, gemeinsam vor der Sächsischen Staatskanzlei für den Planaufstellungsbeschluss zu demonstrieren. So zwangen wir die Zuständigen 1994 mit der Sanierungsplanung zu beginnen.
Über zehn Jahre lag der See vor unserer Haustür und wir wurden ungeduldig, ihn offiziell nutzen zu können.

1995 stellte die hohe sächsische Politik den Sanierungsrahmenplan endlich fertig. Doch bevor dieser beschlossen werden konnte, überzeugte eine westdeutsche Investorengemeinschaft den Zweckverband Elstertal von der Idee des »Karl-May-Lands«: Zwischen dem Geierswalder und den östlichen Nachbarseen sollte ein Karl-May-Disney- land geschaffen werden. Das Gebiet sollte umzäunt werden und die Besucher, wie im wilden Westen, mit dem Planwagen durch die Landschaft fahren. Dafür wurde der gesamte Sanierungsplan überarbeitet. Für das Unter- fangen fanden sich jedoch jahrelang keine zahlungskräftigen Investoren.

1999 begrub der Zweckverband Elstertal endlich das Vorhaben. Ich konnte Kontakte knüpfen und Ideengeber für unseren See suchen. Mit Professor Fi- scher landete ich einen Glücksgriff, denn er überzeugte den Geierswalder Ortschaftsrat Ende 1999 von den schwimmenden Häusern und half uns, mit seinen Studenten Projekte für den Übergang zum Tourismus zu planen. Viele Dorfbewohner standen der Idee, Tourismus nach Geierswalde zu bringen, kritisch gegenüber. Die Fremden allerdings erkannten die Potenziale unserer Lage am See. Sie kauften Land und bauten Häuser. Bereits 1999 zogen einige mit ihrem Boot im Schlepptau hierher, obwohl der See noch nicht freigegeben war.

Mit der Sechshundertjahrfeier 2001 bot sich ein Datum, auf das wir hinarbeiten konnten, um endlich die Genehmigung für den See zu erwirken. Die Abschlussfeier sollte an und auf dem See statt finden. Zwei Jahre lang planten wir das Fest. Wir gründeten die Interessengemeinschaft »Dörfliches Leben«, in der sich alle lokalen Akteure zusammenfanden. Die Feuerwehr, die Jagdgenossenschaft, der Seniorenclub, die Kirchengemeinde und der Kultur- und Sportverein (KSV) waren mit von der Partie.

Im Dorf entstand anlässlich des Jubiläums der Wunsch, unserem abgebaggerten Ortsteil Scado ein Denkmal zu setzten. Wir riefen ehemalige Scadoer auf, sich an den Vorbereitungen zu be- teiligen. Horst Kaschner und Gerhard Nickus engagierten sich besonders da- für. Sie kümmerten sich um den Gedenkstein, den die LMBV sponserte, sammelten Geld und gestalteten die Gedenktafel.

Parallel organisierten die Wassersport- freunde des KSV eine Segelregatta. Schon zwei Monate vor dem geplanten Termin fragten Segler aus Senftenberg nach einer Einlassstelle. Darauf hatte ich spekuliert, denn jetzt konnte ich Druck auf die LMBV ausüben. So ließ sich das Sanierungsunternehmen überzeugen, die Zuwegung zum See sowie die Einlassstelle zu bauen und den See zumindest auf der Geierswalder Seite freizugeben. Dieser Zustand besteht bis heute. Das Ost- und das Westufer des Sees dürfen nach wie vor nicht betreten werden.

Wir freuten uns, einen Präzedenzfall geschaffen zu haben, um den See zu nutzen – als ersten von neun Tagebau- seen, die nach der Wende in der Re- gion entstehen sollten. Die LMBV, mit dem uns immer motivierenden Ideen- und Ratgeber Manfred Kolba, brachte uns großes Vertrauen entgegen. Dafür bin ich heute sehr dankbar. Was, wenn auf dem Wasser etwas schief gegangen wäre? Mir zur Seite standen als Mitverantwortliche Dr. Frank Petrich und Axel Holz.

Besondere Unterstützung erhielten wir von der damaligen Landrätin und heutigen sächsischen Wirtschaftsstaatssekretärin Andrea Fischer. Zur Sechshundertjahrfeier kam das Fernsehen in unser Dorf. Unter den wohlmeinenden Blicken der Bürgermeister der Umlandgemeinden, der Vertreter des Zweckverbandes, des Landrates und anderer Behörden gaben wir Geierswalder unseren See selbst frei – zur erstmaligen auf drei Tage begrenzten Teilnutzung – mit ei- nem kleinen Festakt und Böllerschüssen am Seeufer.

Als wir das Denkmal für Scado enthüllten, stieß mich Walter Karge, der zu- ständige Chef der LMBV, scherzhaft an: »Wollt Ihr die Nutzung des Sees dieses Jahr nicht noch einmal beantragen?!« Drei Monate später nahmen wir unser erstes Geierswalder Seefest als Anlass, genau das zu tun.

Beim Abschluss der Sechshundertjahrfeier mit Musik und Gaudi-Regatta wurden die Gäste mit einem Fackelzug vom Festplatz zum See geführt. Als wir am See ankamen, wartete dort das halbe Dorf. Ich war überrascht, auch etwas stolz und dachte: »Jetzt hat das Dorf den See angenommen!«

Kinder und Erwachsene tanzten aus- gelassen um das Lagerfeuer, als die Sonne am Horizont hinter dem See unterging. Mein Freund Diethelm Tinko rief mir begeistert zu: »Hey, Karl-Heinz! Ich glaube, du hast es geschafft.«

3 Gedanken zu „Kampf um den Geierswalder See

    1. Sehr interessanter Arikel lieber Karl-Heinz—-
      ja, das Leben fliesst dahin-mit und ohne Sinn
      gelandet sind wir ( meine Traudel und ich )
      wieder in Berlin und lassen es uns gut gehen.

      Herzliche Grüße
      Wolfgang

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