Entweder ihr wohnt auf eurer Scholle, oder ihr lebt im Dorf

Die Geschichte von Roland Sängerlaub

In den Achtzigerjahren wohnte und arbeitete ich mit meiner Frau Belinda in Hoyerswerda. Noch heute sind wir hauptberuflich in der Kinder- und Jugend- sowie Familienhilfe tätig. Eine Dienstreise nach Senftenberg führte mich erstmals durch Geierswalde. Ich fuhr durch den Ort und fühlte mich irgendwie wohl. Wie ich später herausfand, wurde Geierswalde 1401 – genau im selben Jahr wie der Ort, in dem ich Kind war – zum ersten Mal urkundlich erwähnt. Vielleicht spürte ich daher eine gewisse Verbundenheit. Das kleine Dorf mit seinen Vierseithöfen und der alten Kirche blieb mir jedenfalls in Erinnerung.

Mit dem Bauboom in den Neunzigern kam in mir der Wunsch auf, wieder aufs Land zu ziehen. Als ich meiner Frau davon erzählte, zeigte sie mir ganz geradeheraus einen Vogel. Im Grunde genommen hatte sie recht. Wir waren jung, hatten zwei Kinder, fingen beruflich gerade erst an uns zu profilieren und verdienten nicht viel Geld. Es war die Zeit der Wende – die DDR existierte nicht mehr. Eine Umschulung zum BRD-Bürger gab es nicht. Mit den Umbrüchen und daraus resultierenden Problemen blieben wir auf uns allein gestellt. Aber wir hatten Ideen und wollten die neue Freiheit als Chance nutzen.

Da ich Geierswalde nie ganz aus den Augen verloren hatte, wusste ich, dass es dort Baugrundstücke gab. Ich zögerte nicht, direkt bei der Gemeindeverwaltung anzurufen, und fragte: »Wie sieht’s denn aus? Ich habe von den Baugrundstücken gehört. Wie komme ich da ran?« »Schicken Sie uns einfach ein formloses Schreiben«, lautete die Antwort.
Das Interesse an den Grundstücken war groß. Vierzehn Flächen standen zur Verfügung. Mit unserer Bewerbernummer 61/95 standen wir sehr weit unten auf der Liste. Dennoch wollten wir es probieren, und zwar hier und nirgendwo anders.

Anfang 1996 wurden wir von der Ortsteilverwaltung schriftlich benachrichtigt und fuhren nach Geierswalde. Wir ließen uns von Karl Heinz Radochla die freien Flächen zeigen. Radochla war zu diesem Zeitpunkt Ortsvorsteher. Später, als ich mich selbst im Ort engagierte, sollte ich seine Hartnäckigkeit kennenlernen. Vor allem wenn es darum ging, seine Ideen in der Gemeinderatssitzung durchzusetzen, war er nicht zu bremsen. Er ist der Typ, den man vorn rausschmeißt und der zur Hintertür wieder reinkommt. Nach dem Motto »Ich hab meine Mütze vergessen…«, legt er wieder los.

Bei unserer gemeinsamen Grundstücksbesichtigung erklärte er, viele der Bewerber, die vor uns auf der Liste gestanden hatten, wären abgesprungen. Auch in den umliegenden Dörfern standen Grundstücke zum Verkauf – das Angebot war riesig. So hatten wir die freie Wahl und konnten uns den schönsten Platz aussuchen. Nebenbei erzählte Radochla von seiner Vision für das Dorf: Geierswalde sollte touristisch erschlossen werden. Am Koschendamm war eine Hotelanlage geplant; das nach dem Bergbau entstehende Seenland sollte wassersportlich genutzt werden.
Im April 1998 begannen wir mit dem Bau unseres Hauses. Sechs Monate später zogen wir ein. Nach und nach lernten wir das Dorf kennen und lieben. Ein guter Rat von Karl Heinz Radochla blieb mir dabei im Hinterkopf: »In Geierswalde habt ihr zwei Möglichkeiten: Entweder ihr wohnt auf eurer Scholle, oder ihr lebt im Dorf.« Wir wollten im Dorf leben und Teil dieser lebendigen Gemeinschaft sein. Über die Vereinsarbeit bekamen wir die Möglichkeit dazu. Als es darum ging, einen Förderverein für die Entwicklung des Tourismus aufzubauen, wurde ich gebeten, beim Erstellen der Satzung zu helfen. Ich überlegte nicht lange. Zur Gründung des Fördervereins Wasserwelt Geierswalde e.V. versammelten sich einhundertvierzig Mitglieder. Wir bezogen Bürgermeister, Landkreis, einen Bundestagsabgeordneten, die LMBV und viele weitere Institutionen in die Arbeit ein. Sie erwiesen sich als stabile Ansprechpartner und großartige Unterstützer unserer Ideen. Vordenker unserer Arbeit blieb Karl Heinz Radochla, der sich von Anfang an mit seiner Erfahrung einbrachte.

Zwei Jahre nach der Gründung unseres Vereins bot die LMBV – die Lausitzer und Mitteldeutsche Bergbau-Verwaltungsgesellschaft mbH, die für die Sanierung der Tagebaurestlöcher zuständig ist – den Geierswalder See zur touristischen Nutzung für einen befristeten Zeitraum zur Pacht an. Als zweiter Vorsitzender des Fördervereins führte ich die Verhandlungen. Wir schlossen einen Vertrag und luden Anbieter von Wassersport bis hin zur Gastronomie ein, mit uns den Tourismus rund um Geierswalde voranzubringen. Schnell entwickelte sich die Vereinsarbeit für mich zu einem Vollzeitjob, welchen ich neben meinem Beruf als Sozialarbeiter zu bewältigen hatte.
Der Aufwand machte sich bezahlt. Wir schufen die Rahmenbedingungen für eine dauerhafte Nutzung. Nun ging es darum, das Ganze mit Leben zu füllen. Wir stellten den Anbietern frei, was sie auf ihrem Stück Land machen wollten. Die einzige Bedingung bestand darin, dass sich die Unternehmen an den insgesamt anfallenden Kosten beteiligten. Der eigene Gewinn blieb beim Anbieter. Das Konzept ging auf. Neben wassertouristischen Angeboten bietet der See eine Vielzahl an Unterkünften und gastronomischen Einrichtungen. Er zieht sowohl Touristen als auch Einheimische an.

Ich selbst musste 2006 die Notbremse ziehen. Nach einem Hörsturz begann ich mich neu zu sortieren. Die Organisation der touristischen Nutzung wurde an die Gemeindeverwaltung übergeben, welche nun Vertragspartner ist und die Arbeit auf Basis der alten Verträge fortsetzt.
Drei Jahre später begann ich, mich wieder aktiver in Geierswalde zu engagieren. Einige Dorfbewohner traten an mich heran und meinten: »Es wird ein neuer Ortschaftsrat gebildet. Es wäre gut, wenn du da mitmachst.« Das Anliegen musste ich mit meiner Familie besprechen. Wir wurden uns einig und so beschloss ich, es zu versuchen. Ich warf meinen Namen in die Lostrommel. Aus der Mitte des neu gewählten Ortschaftsrates wurde ich zum Ortsvorsteher gewählt.

Heute sage ich mit Nachdruck: „Damals wohnte ich da oder dort. Hier in Geierswalde lebe ich.“ Ich habe es nie bereut, hergekommen zu sein. Ganz im Gegenteil. Mein Sohn sagte einmal zu mir: »Vati, das war die beste Entscheidung, die wir je getroffen haben.« Dem stimme ich voll und ganz zu.