Ein Haus für die Kultur

1. Preis im Wettbewerb „Die besten Lausitz-Geschichten“ (Kollektivgeschichte)

Wolfgang Alkier: Als das Kulturhaus Mitte der 1950er Jahre gebaut wurde, stritten die Plessaer heftig darüber. Wurde es wirklich gebraucht?

Das kleine Fischerdorf Plessa hatte sich mit den Braunkohlefunden um die Jahrhundertwende in unvorstellbarem Maße entwickelt. Es existierten fünf Bäcker, Schlossereien und Handwerksbetriebe. Vereine gründeten sich. Während im Jahr 1900 tausend Menschen hier lebten, zählte Plessa in den Sechzigerjahren dreitausendfünfhundert Einwohner.

Die Menschen arbeiteten im Tagebau, in der Brikettfabrik, im Meliorationsbau, der Gärtnerischen Produktionsgenossenschaft (GPG) sowie im Kraftwerk. Sie verlangten zum Ausgleich für die Arbeit nach Kultur. Tanz, Sport und Theater boten vor dem Krieg mehrere Gaststätten und Säle an: Saal »Brösgen«, Saal »Hauptvogel«, Saal »Nuck«, Saal »Schüler« und die »Kantine«.

Im Krieg brannten viele dieser Häuser ab oder wurden zerstört. Um den Menschen Kultur zu bieten, legte die Regierung um 1953 fest, dass jeder Betrieb seine eigene Kultureinrichtung bekommt. Dieser Plan wurde jedoch zugunsten eines großen Hauses aufgegeben. Die Betriebe legten dafür ihr Geld zusammen.

Ilse Winge: Das Kulturhaus wurde 1960 eröffnet – am Wochenende des Tags des Bergmanns und Energiearbeiters, den wir am ersten Sonntag im Juli begingen. Das Kulturhaus unterstand dem VEB Braunkohlenkombinat Lauchhammer. Alle Beschäftigten im Haus – Hausmeister, Heizer, Büroleute – bezahlte das Kombinat.

Gemeinsam mit einer Bekannten hatte ich bereits am 16. Mai meine Stelle als Bürokraft angetreten. Ich machte die Buchhaltung und betreute die Kasse. Das Foyer war noch nicht fertig und ich musste auf meinem Weg ins Büro über Holzbalken und Baumaterial steigen. Auch gab es noch keine Schreibtische, sondern lediglich einfache Holztische und Stühle. Pünktlich zum Bergmannstag war alles fertig.

Das Amt des Kulturhausleiters übernahm Gerhard Müller. Allerdings blieb er uns nicht lange erhalten. Bei einem lebhaften Tanzabend fiel er mitten auf der Tanfläche um und war auf der Stelle tot. Ein Schlaganfall.

Die Tragödie schockierte uns alle. Walter Kotte, der bisherige Verwalter, übernahm den Posten bis 1988. Das Leben ging weiter und wir erlebten viel Schönes.

Renate Weber: Ich kümmerte mich von 1979 bis zur Wende um die bunten Veranstaltungen der heiteren Muse. Zehn Veranstaltungen fanden im Jahr statt, unterbrochen durch eine zweimonatige Sommerpause. Unsere Abonnenten brachten zu diesen beliebten Abenden Verwandte und Bekannte mit. Betriebe holten sich Karten für ihre Angestellten.

Um die fünfhundert Sitze im Saal gerecht zu verteilen, führten wir das »rollende System« ein. So kam jeder Gast einmal in den Genuss, ganz vorn zu sitzen. Wer bei der ersten Veranstaltung in der ersten Reihe gesessen hatte, saß bei der zweiten ganz hinten und rückte von Aufführung zu Aufführung drei Reihen vor, bis er erneut ganz vorn saß.

Ilse Winge: Fast alle bekannten Künstler der DDR traten bei uns im Kulturhaus auf: die Schlagersängerinnen Helga Brauer und Monika Herz, der Komiker Eberhard Cohrs, der Musiker Frank Schöbel und wie sie alle hießen. Nach ihren Auftritten überreichten wir ihnen Blumen zum Dank und sie trugen sich in das Gästebuch ein.

Renate Weber: Wir Plessaer freuten uns über prominente Gäste. Mit unserer Meinung zu den Auftritten hielten wir jedoch nicht hinterm Berg. Das erlebte auch das Schlagerduo Monika Hauff und Klaus-Dieter Henkler.

Ich sah ihren Auftritt und hörte die Beschwerden der Gäste: »Schade, dass sie im zweiten Teil nur ausländische Lieder gesungen haben.« »Die beiden sind doch Deutsche. Da können sie für ihr deutsches Publikum auch deutsche Lieder singen!«

Nach dem Konzert ging ich in die Künstlergarderobe, damit sich Hauff-Henkler ins Gästebuch eintrugen. Klaus-Dieter Henkler fragte mich: »Wie hat Ihnen die Veranstaltung gefallen?« Ich antwortete: »Wenn Sie schon fragen… Die Zuschauer fanden den zweiten Teil ein bisschen unverständlich. Sie wunderten sich, warum Sie nicht Ihre schönen deutschen Lieder gespielt haben. Das wäre für unser älteres Publikum passender gewesen.« »Siehste!«, rief Klaus-Dieter Henkler aus und drehte sich mit erhobenem Zeigefinger zu seiner Partnerin um. Sie warf mir einen bösen Blick zu – offensichtlich führten sie diesen Disput nicht zum ersten Mal.

Ursula Hofmann: Ich vergesse im Leben nicht, dass ich mit der Schlagersängerin Bärbel Wachholz eine kleine Freundschaft schloss. Als Sekretärin des Kulturhausleiters begrüßte ich sie vor ihrem Auftritt. Die Sängerin mochte mich auf den ersten Blick und ich durfte sie in ihre Garderobe begleiten. Neugierig stellte ich Fragen und sie erzählte mir aus ihrem Künstlerleben.

Wir sprachen auch über meine Mutter, an der ich sehr hing. Sie war ein halbes Jahr zuvor gestorben und ich hatte den Verlust noch nicht überwunden. Dies berührte Bärbel Wachholz: »Wenn ich heute Abend mein Lied ›Mama‹ singe, denke ich an Sie.«

Bei ihrem Auftritt saß ich in der ersten Reihe und heulte wie nie. Noch heute kenne ich den Text auswendig und denke an diesen Abend, wenn ich das Lied höre.

Carola Meißner: Es war großartig. Viele Künstler, die ich nur aus Rundfunk und Fernsehen kannte, standen bei uns auf der Bühne. Das wollten sich die Plessaer nicht entgehen lassen. Ich denke, deswegen waren die bunten Veranstaltungen beliebter als Theateraufführungen.

Ilse Winge: Was das Theater angeht, sind die Plessaer ein bisschen »mufflig«. Nicht alle ließen sich von der ernsten Kunst hinterm Ofen hervorlocken. Trotzdem füllte sich der Zuschauerraum, wenn die »Landesbühnen Sachsen« oder das »Theater Senftenberg« bei uns gastierten.

Dazu trugen die Theaterringe bei. Sie funktionierten wie ein Abonnement-System. In jedem Ort rund um Plessa fand sich ein Kassierer, dem wir die Karten zuschickten und der diese an die Mitglieder des Rings verteilte. An der Abendkasse rechnete ich die verkauften Karten ab. Die gastierenden Theater erhielten die gesamten Einnahmen.

Ingrid Mertzig: Neben Konzerten und Kabarett, Schauspiel und Operetten fanden im Kulturhaus auch Betriebs- und Familienfeiern, Jugendweihen, Namensweihen, und Einschulungen statt.

Günter Kamenz und seine Kurse zur Verkehrssicherheit gehörten ebenso dazu wie der Bauernmarkt und der »Tanz in den Frühling«, organisiert vom Ehepaar Schumacher. Die Betriebe nutzten das Kulturhaus für ihre Weihnachtsfeiern und die Jahreshauptversammlungen. Um einen Termin für die Gemeindevertretersitzungen des nächsten Jahres zu bekommen, musste ich als Bürgermeisterin schon im September anfragen.

Ursula Hofmann: Über die Veranstaltungen und das begeisterte Publikum berichtete ich in unserer Heimatzeitung, der »Lausitzer Rundschau«.

Als Sängerin stand ich selbst mit dem Orchester der Bergarbeiter und unserem Chor auf der Bühne. Diese Auftritte entschädigten mich für das durch den Krieg entgangene Gesangsstudium.

Carola Meißner: Ich weiß noch, dass ich mich am Tag meiner Einschulung gleich drei Zentimeter größer fühlte. Auf der großen Bühne des Kulturhauses wurden wir Erstklässler begrüßt und unseren Klassenlehrern zugeteilt. Danach gingen wir geschlossen zum Schulgebäude. Leider gab es bei meinen Kindern diese Feierstunde im Kulturhaus nicht mehr. Die Aufnahme der Erstklässler fand auf dem Schulhof oder in der Turnhalle statt.

Ich erinnere mich, dass wir mit der Schule regelmäßig ins Theater gingen. Mein erstes Bühnenerlebnis war »Der Biberpelz« von Gerhart Hauptmann. Das Stück vergesse ich nie. Ich fand es… schrecklich.

Doch die alten Puppenbühnen begeisterten mich. Riesengroße, reich geschmückte und bemalte Bühnen, die vor der Kulturhausbühne aufgebaut wurden. Eine andere Welt! Kasper führte die Kinder durch die Geschichten. Die Puppen hingen an Fäden und wirkten doch lebendig. Heute weiß ich, es handelte sich um Marionetten der typischen Wanderpuppenbühnen, die seit Generationen durch die Region zogen.

Zu meiner Schulzeit hielt die Schule auch Vollversammlungen im Kulturhaus ab. Die Schüler wurden über Neuigkeiten informiert. Außerdem erhielten alle die allgemeine Jahresauftaktbelehrung über Fundmunition und Gefahren im Bergbaugebiet. Keiner konnte behaupten, er hätte nichts gewusst.

Die Schulleitung nutzte die Vollversammlung auch, um zu tadeln. Die Schüler machten viel Unfug: Sie manipulierten Weichen und probierten, die Halbschranke am Waldbahnübergang auszuhängen.

Manch einer überlegte, was er getan hatte, wenn er vor der versammelten Schule auf die Bühne zitiert wurde. Unverbesserliche sahen wir jedes Jahr dort oben.

Ingrid Mertzig: Die Räume des Kulturhauses dienten dem Jugendblasorchester als Proberaum. Vor dem 1.Mai übten sie drinnen die Musik und draußen auf der Straße das Marschieren. Die Numismatiker und die Philatelisten trafen sich regelmäßig. Es gab eine Bibliothek und vier Nähzirkel. Unter der Leitung der Schneiderin Frau Henschke lernten wir alle Arbeitsschritte vom Zuschneiden über das Heften und Nähen. Denn in den Läden fanden wir nicht immer die Kleidung, die wir tragen wollten. So entstanden Röcke, Blusen und Kleider aus gutem Stoff, den wir in dem herrlichen Geschäft »Haferland« in Finsterwalde kauften.

Carola Meißner: Ich war begeistertes Mitglied im Zeichenzirkel. Franz Kießlich, unser Zeichenlehrer, erkundete mit uns die Umgebung – um Landschaft zu entdecken und zu zeichnen.

Da Herr Kießlich oft an den Bühnendekorationen für das Kulturhaus arbeitete, bestand zwischen ihm und Walter Kotte intensiver Kontakt. Über den Träger des Kulturhauses, das Braunkohlenkombinat Lauchhammer, organisierte Herr Kotte die Unterstützung für Projekte des Zeichenzirkels. Für ein Projekt schnitten wir aus Klarsichtplastikplatten, die wir farbig angestrichen hatten, Stücke und klebten Mosaike daraus. Das große Bild zum Thema Völkerfreundschaft erhielt das Kulturhaus. Viele Jahre später wurde es an die Schule übergeben. Als Dankeschön bekam der Zirkel einen Ausflug geschenkt. Mit dem Bus fuhren wir nach Dresden und verbrachten einen Tag in der Galerie »Alte Meister«. Als mit der Wende die Betriebe schlossen und die Reste der Kohleindustrie privatisiert wurden, verlor das Kulturhaus seine finanzielle Grundlage. Es gab keine Veranstaltungen mehr. Das Leben im Kulturhaus starb.

Es war fünf nach zwölf, als sich vor zehn Jahren einige Plessaer zusammenfanden und versuchten, den Stein für eine Wiederbelebung des Kulturhauses ins Rollen zu bringen. Schließlich fehlte unserem Heimatort ein großer Teil seines kulturellen Lebens.

Am Anfang standen wortreiche Auseinandersetzungen mit der Gemeindevertretung. Bis Lothar Thieme – ein ganz Verrückter, das darf man so sagen – zum Musiker Prof. Ludwig Güttler nach Dresden fuhr. Er klopfte an dessen Tür und fragte ihn: »Sie haben sich engagiert und den Wiederaufbau der Frauenkirche auf den Weg gebracht. Wir haben da so ein Haus: Was können wir tun, um es zu erhalten?« Er antwortete: »Als erstes gründen Sie einen Verein!«

Das taten wir: 2008 riefen wir den Kulturverein ins Leben. Vereinsmitglieder, Freunde und Bekannte legten Hand an, sanierten, renovierten und erfüllten in vielen freiwilligen Arbeitsstunden die Brandschutzauflagen. So bildete die alte Kabelage des Kronleuchters aus den Sechzigerjahren im großen Saal ein ständiges Brandrisiko. Wir nahmen ihn von der Decke und verkabelten ihn neu. Als Abschluss wurde alles durch eine Firma ordnungsgemäß geprüft und freigegeben.

Heute stehen wir vor zwei Problemen, die der Verein nicht allein lösen kann: das marode Dach und die alten Fenster. Sie müssen saniert werden. Um das nötige Geld zusammenzubekommen, ruft der Verein zu Spenden auf.

Wolfgang Alkier: Durch die sanierungsbedürftigen Fenster und das Dach entsteht ein Problem: enorme Heizkosten. Früher war durchgängig Leben im Haus. Dadurch blieben die Räume warm. Ging die Kohle im Heizhaus zur Neige, lieferte die Brikettfabrik einen vollen LKW. Heute muss das Haus zu jeder Veranstaltung hochgeheizt werden. Das ist teuer. Eine Veranstaltung erzeugt, je nach Außentemperatur, bis zu vierhundert Euro Heizkosten.

Um die Wärme auszunutzen, legt der Karnevalsclub seine Veranstaltungen zusammen. Am 11.11.2015 fand nach der Schlüsselübergabe am Gemeindeamt ein kleiner Imbiss im Kulturhaus statt, tags darauf eine große Veranstaltung und am nächsten Tag eine für Rentner.

Das Kulturhaus ist groß – vielleicht zu groß für unseren kleinen Ort. Aber wir brauchen es, es gehört zu uns!
In den vergangenen Jahren bewiesen wir, dass es sich füllen lässt: Allein in den letzten zwei Monaten fanden vier ausverkaufte Großveranstaltungen statt. Am 2. Januar 2016 spielte »City« im großen Saal – zuletzt waren sie hier vor fast vierzig Jahren gewesen. »Mal sehen, wie es da jetzt aussieht«, sagten sie skeptisch vor ihrer Anreise. Die Bude war voll! Und die Akustik noch genauso gut.

Carola Meißner: So wie den Bandmitgliedern von »City« wird es vielen Künstlern gegangen sein. Ob der Startrompeter Ludwig Güttler, der die Aktivitäten für das Kulturhaus mit drei Benefizkonzerten unterstützte, ob Ruben Wittchow und das Tonstudio »Showcase« aus Potsdam, die ein Musikalbum einspielten, ob das »Lucerne Festival Orchestra« aus der Schweiz, das sein einziges Sonderkonzert im Sommer 2014 in Plessa spielte oder das »Wiener Belvedere Orchester« mit seinem besonderen Neujahrskonzert 2016.

Die Zweifel: »Plessa? Wo werden wir da hinkommen?«
Das Unerwartete: Eine große Bühne, ein voller Saal und eine einzigartige Akustik.

Der Lohn für die Künstler: Ein volles Haus und begeisterte Menschen!