Brieske? Da kannste nicht hin!

Geschichte von Gudrun Andresen

Brieske blieb für mich lange Zeit eine Bahnstation zwischen Forst und Lauchhammer. In Forst wohnte ich mit meiner Mutter und meiner Schwester Lore in einem Haus mit großem Garten. Oft besuchten wir unsere Tante Hanna und Cousine Friderun, die in Lauchhammer-Mitte, dem früheren Bockwitz, lebten. Der Zug führte uns jedes Mal in eine andere Welt. In Forst war alles sauber, weder Kohlenstaub noch Dreck hingen in der Luft. Wäsche konnten wir jederzeit draußen aufhängen. In Lauchhammer ging das nicht. Nur wenn der Wind günstig stand, hängten die Frauen ihre Wäsche auf die Leine.

Ich wurde 1943 geboren. Unser Vater blieb im Krieg. Auch der Vater unserer Cousine kam nicht zurück. Wir Frauen waren auf uns allein gestellt. Viele Erinnerungen an diese Zeit habe ich nicht mehr. Ich weiß noch, dass es in Forst oft Fliegeralarm gab und wir zum Schutz vor den Bomben in den Keller gingen. Dort stand eine Badewanne, in der wir manchmal schliefen. Als wir im Kindergarten – ich war fünf oder sechs Jahre alt – unsere Erinnerungen an den Krieg zeichnen sollten, malte ich einen Raum mit einer riesigen Deckenlampe. Wahrscheinlich hatte diese im Keller gehangen und sich in mein Gedächtnis eingebrannt.

Nach dem Krieg wurde unser Garten zu einer wichtigen Überlebensquelle. Gemeinsam mit meiner siebzigjährigen Oma suchte ich in der Erde nach Möhren und Kartoffeln, um abends etwas im Magen zu haben. Im Sommer gab es Kirschen und anderes Obst. An die Kirschen erinnere ich mich besonders gut, denn unsere Mutter gab uns jedes Mal zwei Eimer für die Verwandten in Lauchhammer mit. Die schleppten wir neben unserem Gepäck. Meist fuhren wir erst abends, denn zuvor mussten die Kirschen vom Baum geholt werden. Bei einer unserer Fahrten stiegen meine Schwester und ich zu zeitig aus dem Zug aus. Es war inzwischen stockfinster, Kohlenstaub hing über dem Ort und verschlechterte die Sicht zusätzlich, keinen einzigen Stern sah ich am Himmel. Fast zu spät erkannte ich unseren Irrtum. »Wir müssen schnell wieder einsteigen! Hier sind wir nicht richtig!«, rief ich Lore zu. Also rafften wir unser Gepäck zusammen, nahmen die Eimer mit den Kirschen in die Hand und sahen zu, dass wir wieder in den Zug kamen. Brieske blieb uns in finsterer Erinnerung. Seitdem sagten wir: »Brieske? Nee, da kannste nicht hin, da kannste überhaupt nicht hin!«

Die Tage in Lauchhammer genossen wir dennoch sehr. Der Kohlendreck dort machte uns nichts aus. Unserer Tante gehörte eine Stellmacherei. Auf dem großen Hof lagerten Bretter und Bohlen – ein herrlicher Spielplatz für uns Kinder. Gemeinsam mit unserer Cousine sprangen wir über die Bohlen und machten uns die Sachen an den vom Kohlenstaub bedeckten Brettern schmutzig. Am Abend ging es in die Badewanne, eine alte Zinkwanne, die draußen auf dem Hof stand. Beim Waschen schauten uns oft die bei meiner Tante einquartierten Flüchtlinge zu. Meiner Schwester war das gar nicht recht und so musste für sie extra ein Zuber in der Futterküche im Keller hergerichtet werden.

In meinem späteren Berufsleben lernte ich, dass der Kohlendreck nicht so harmlos war, wie er uns damals erschien. Nach meinem Abitur am Gymnasium in Forst studierte ich in Olomouc, in der damaligen Tschechoslowakei, Medizin. Anschließend arbeitete ich an der Kinderklinik in Lübben, an der mein Mann Chefarzt war. Anfang der Achtzigerjahre gingen wir gemeinsam nach Senftenberg und eröffneten dort unsere Praxis. Die Kinder aus Brieske und der Gartenstadt Marga kamen alle zu uns. In der Praxis sah ich mich besonders im Nachtdienst mit der Krankheit Pseudokrupp konfrontiert – die Krankheit brach meist in der Nacht aus, ließ die Schleimhäute der Luftröhre anschwellen und erschwerte das Atmen. Kamen die Kinder nicht rechtzeitig zum Arzt, konnte dies tödlich enden. Erst mit der Schließung der Brikettfabriken gingen auch andere Erkrankungen – wie asthmatische Bronchitiden – bei Säuglingen und Kleinkindern zurück.

Dreck und Kohlenstaub spielen heute keine Rolle mehr in Brieske. Meinen ersten Eindruck des Ortes, den ich in dieser stockfinsteren Nacht vor über fünfzig Jahren am Bahnhof bekam, kann ich heute nicht mehr unterstreichen. Im Gegenteil: Heute hängt die weiße Wäsche auf den Leinen! Der Ort ist mit neuen Eigenheimen, viel Grün und der sanierten Gartenstadt Marga zu einer »Perle der Lausitz« geworden.