Schule und Krieg

Die Geschichte von Käthe Beier

Ich wuchs in Lauchhammer-Süd auf. Meine Familie besaß eine Bäckerei. Ich wurde 1941 eingeschult. Unterricht fand kaum statt, denn es gab keine Lehrer. Die waren entweder In- validen oder im Krieg. Ein Lehrer hatte eine starke Gehbehinderung. Er ging am Stock. Er war böse und unbeliebt, weil er uns Kinder prügelte.
In der vierten Klasse behandelten wir das Deutschlandlied. Wenn ich un- sere Nationalhymne höre, erinnere ich mich an eine Szene im Musikunterricht. Wir sangen: »Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt«. Der Lehrer fragte: »Wer kann gut schreiben?« »Die Käthe«, riefen meine Mitschüler. Ich stieg auf die Trittleiter und schrieb die Worte mit Kreide an die große Tafel.

Der Lehrer befahl hinter mir, fuchtelnd mit dem Rohrstock: »Schneller, schneller!« Ich war aufgeregt, verschrieb mich, musste weglöschen, verschrieb mich erneut, löschte weg. »Runter!«, kommandierte der Lehrer und drosch mit dem Rohrstock auf mich ein. Weinend schlich ich an meinen Platz.

Im Unterricht wurden Führerinnen aus dem Bund Deutscher Mädel (BDM) eingesetzt. Sie waren nur wenig älter als wir. Um sich Respekt zu verschaffen, gingen sie durch die Rei- hen und gaben jedem einen Schlag auf den Kopf. Anschließend versuchten sie, uns etwas beizubringen. Was wir lernten? Nichts.

Ich ergriff den Beruf des Lehrers, weil ich es besser machen wollte. Mit der Jugend zu arbeiten, Kinder zu erziehen, das ist schön. Ich absolvierte 1959 mein Staatsexamen und begann an der Schule in Lauchhammer. Auf der Kreislehrerkonferenz hatte ich eine unliebsame Begegnung. Plötzlich saß mir der Lehrer gegenüber, der mich verdroschen hatte, weil ich das Deutschlandlied nicht schnell genug an die Tafel schrieb. Ich kann euch nicht beschrei- ben, welche Wut mich überkam! Was hatte diesem Menschen das Recht gegeben, so mit Kindern umzugehen?

Ich studierte Lehramt für Sport und Germanistik in Halle und Leipzig. Überall fehlten Sportlehrer. Deshalb unter- richteten wir Studenten am Wochenende Sport. Ich kam in ein Dorf mit einem Heim für sogenannte Schwererziehbare. Die Jungs hatten es in sich. Vier Wochen brauchte ich, um durch- zusetzen, dass sie während des Unterrichts die Gummistiefel auszogen.

Wir machten im Tanzsaal der Kneipe Sport. Dort stand ein alter Kasten, da- neben lagen dreckige Matten. In der fünften Klasse gab es ein Kerlchen mit blitzwachen Augen. Der hatte es faustdick hinter den Ohren. Die Jungs machten eine Rolle vorwärts. Hinter meinem Rücken warf der Pfifikus einen »Reifentöter« – eine Eisenkralle mit scharfen Spitzen – auf die Matte, die dem Nächsten im Rücken stecken geblieben wäre.

Rechtzeitig bemerkt, packte ich den Übeltäter am Kragen und streckte ihn in die Höhe. Ängstlich schwebte er über mir. Ich überlegte: »Was machst du? Haust du ihn runter oder setzt du ihn vorsichtig ab?« Ich setzte ihn ab und sagte ruhig: »Mach das nie wieder!« Das war das erste und einzige Mal, dass ich Kraft anwendete, um erzieherisch zu wirken. Der kleine Kerl und ich verstanden uns fortan sehr gut.

Lasst mich noch etwas vom Kriegsende erzählen: Wir flüchteten vor den Russen. Leichen hingen an den Brücken. Flüchtlinge, Gefechte, Schießereien, Brände. Diese Erlebnisse traumatisieren. Doch ich spürte das nicht. Wahrscheinlich war ich zu klein. Mein Vater war eingezogen. Aber ich hatte meine Mutter. Sie nahm mich in die Arme. Bei ihr fühlte ich mich sicher. Die Menschen, die heute flüchten und zu uns kommen, gehen mir nah. Es wühlt meine Erinnerungen auf. Ich möchte helfen, glaube aber, für mich ist es zu spät.

In jungen Jahren brachte ich Mosambikanern die deutsche Sprache bei. Sie wurden in der DDR ausgebildet, um danach als Facharbeiter in ihr Land zurückzugehen.
Die erste Stunde war ein Erlebnis: Ich kam in die Klasse mit dreißig Jungs, die ihre dunklen Gesichter auf mich richteten. Ihre Augen waren voller Erwartung und Neugier. Ich sah die Aufgabe als Herausforderung, etwas Neues zu bewältigen. Wir brauchen die Sprache, um uns miteinander zu verständigen. Sie ist das Wichtigste, um in einem fremden Land zurechtzukommen.