Krasse Jugend

Die Geschichte von Marian Freigang

1. Platz im Wettbewerb „Die besten Lausitz-Geschichten“ (Einzelgeschichte)

Als ich zwölf war, ließen sich meine Eltern scheiden. Das war krass für mich. Ich hatte Angst, dass sich die Familie spaltet. Vati und Mutti – so wie ich es kannte – das existierte nicht mehr. Gleichzeitig kam die Wende. Ich befand mich mitten in der Pubertät und baute nur Bockmist. Mein Bruder, der vier Jahre älter ist, verkraftete das besser.

Ich wurde in der Neustadt 1 groß. Die Kumpels gaben ihr Geld für Coca Cola aus. Zwei Mark kostete eine Dose. Ich fragte mich: Wieso soll ich das Taschengeld für eine dämliche Cola ausgeben? Ich trank Wasser und legte mein Geld zurück.

Mein Vater schenkte mir zum Geburtstag ein BMX-Rad. So besaß ich nach der Wende als einer der ersten so ein Rad – und ich hatte Geld für Ersatzteile. Unsere Gruppe bestand aus circa fünfzehn Jungs. Wir fanden Gefallen daran, in Lagerhallen einzubrechen. Wir freuten uns, wenn es in der Zeitung stand und prahlten auf dem Schulhof damit. Da kam die Polizei.

Ich wusste mit meinem Frust nicht wohin. Meine Mutter war kraftlos und manchmal ratlos. Sie erzählte mir: »Jeden Tag bist du zerschrammt und mit kaputten Klamotten nach Hause gekommen.« Ich kloppte mich auf dem Schulhof – mit der Faust ins Gesicht. Weil mir irgendetwas nicht passte, weil einer doof war… Meine Mutter fragte mich: »Woher hast du das?« Sie ist ein ängstlicher Typ, mein Vater ein ruhiger. Mein Bruder ist defensiv. Nur ich gehe mit dem Kopf durch die Wand. Kennen Sie die Schienen an der Bunkerbrücke, wo die erneuerte Umgehungsstraße nach Lauchhammer-Nord entlangläuft? Da fuhren die Kohlezüge. Dort trafen wir uns. Zwanzig, dreißig Stifte.

Die Züge fuhren mit den Kohlewag- gons um eine Kurve. Kaum war das Führerhäuschen an uns vorbei – sodass uns der Lokführer nicht mehr sehen konnte – warfen wir Steine auf den Zug. Das scherbelte. Das machte Spaß. Einer stand Wache wegen des Streckendienstes. Wenn der kam, flüchteten wir in die Wälder. Wir waren rebellisch – ich vorneweg.

Im Alter von sechzehn begann die Moped-Zeit. Keiner aus unserer Moped-Gang hatte eine Fahrerlaubnis. Wir fuhren schwarz. Mich nannten sie »Tanker-Ali«. Mit dem Fahrrad holte ich Sprit von der alten Minol-Tankstelle an den Biotürmen.

Ich war braun gebrannt mit wildem Haar, das Gesicht verschmiert vom Öl, Sprit an den Händen. Die Gang wartete an den Weinbergs-Garagen auf mich. Wenn ich kam, schrien sie: »Tanker-Ali kommt!« Wir tankten die Mopeds auf und los ging’s. Auf kleinen Wegen. Auf die Schnauze gelegt, wieder aufgerappelt. Wir freuten uns, wenn der Förster mit seiner MZ anbrauste. Der hetzte uns durch die Wälder.

Wir Freigangs sind eine richtige Kohle-Familie.MeinVater ist Ingenieur.Nach der Wende kamen meine Eltern bei der LMBV unter. Gerhard Freigang, mein Opa, war Direktor beim VEB Braunkohlenveredlung Lauchhammer (BVL). Er hatte zu Ost-Zeiten sogar einen Chauffeur.

Durch meine Eltern rutschte auch ich in die Kohle rein und lernte Schlosser im Ausbildungsbetrieb Brieske. Nach drei Monaten hatte ich keinen Bock mehr. Doch Vater und Mutter wollte ich nicht enttäuschen. Wie hätten die dagestanden in der LMBV? Das wollte ich ihnen nicht antun. Meine Eltern brachten mir bei durchzuhalten, wenn ich etwas begonnen hatte.

Ich lernte drei Jahre, ohne Lust. Nur um einen Abschluss in der Tasche zu haben. Ich hätte lieber einen sozialen Beruf gelernt.

Mitte der Neunzigerjahre ging es auf Lauchhammers Straßen zur Sache. Einmal standen sich auf dem Marktplatz zweihundert Mann gegenüber. Auf der einen Seite die Rechten, auf der anderen die Linken. Ich stand bei den Linken.

Ein andermal schlugen die Rechten einen Punker, einen Freund von mir, feige zusammen. Fünf gegen Einen. Die Polizei war machtlos. Durch diese Erfahrungen schwor ich mir, für Gerechtigkeit zu kämpfen.

2001 wurde es ganz schlimm. Da begann diese DVU-Scheiße und der Stress mit den Rechten verschärfte sich. Wir machten Aktionen gegen diese Partei, prügelten uns auch mit denen. Ich kämpfte für die Alternativen, die mit langem Haar, Irokesen und Ohrringen. Die konnten nicht über den Markt gehen, ohne eins auf die Schnauze zu bekommen. Ich kämpfte dafür, dass niemand Angst haben musste, von einer Party heimzulaufen.

Zu dieser Zeit kam ich zum »Buntrock«. Der Club war am Gymnasium aus dem »Chillout« entstanden. Mir half der Zusammenhalt untereinander.

Die jungen Leute brauchten einen Raum, um sich zu treffen. Wir sind musikbegeistert. Wir brauchen Proberäume. Ansonsten gibt es hier nichts. Anfang der Neunziger standen in Lauchhammer viele Häuser leer. Sie besetzten den ehemaligen Kindergarten. In diesem Kindergarten hatte ich als Kind gespielt.

Die Leute von der Stadt drängten uns: »Ihr müsst raus. Das Haus will einer kaufen.« Eine Lüge! Niemand kaufte das alte Haus. Irgendwann wurde es abgerissen.

Meine Freunde gingen mit zehn, fünfzehn Mann zum Bürgermeister und forderten einen Raum. Sie bekamen die ehemalige Nähstube hinterm ehemaligen Rathaus angeboten. Die Stube wurde der Anlaufpunkt für die Punkrocker und Metal-Freaks. Diese große Musikgemeinschaft, die in mehr als zehn Bands spielte, half einander. Es war ein winziger Raum für die vielen Leute und die vielen Partys, die wir feierten. Doch wir waren froh, dass wir überhaupt eine Bude hatten.

Das sage ich heute den Jüngeren: Es ist wertvoll, einen Raum zu haben. Wir mussten um unseren Rückzugsort, die kleine Nähstube, kämpfen.

Im Sommer 2012 wurde »Buntrock« zwanzig Jahre alt und wir Jüngeren übernahmen den Club. Ich wurde Schatzmeister. Im Januar 2013 schickte uns Bürgermeister Polenz die Kündigung für die Clubräume. Für die Älteren brach eine Welt zusammen. Sie hatten den alten Hort zu Proberäumen umgebaut. Nun sollte der Club dicht gemacht werden.

Wir wollten für den Club kämpfen. Ich ging zum Anwalt. Als Verein kann man die Gelder für einen Anwalt beim Land beantragen. Der Anwalt sagte, es wäre nicht rechtens, einem Verein mit siebzig Mitgliedern den Mietvertrag zu kündigen. Wir trafen uns mehrfach mit Roland Polenz. Schließlich ruderte er zurück. Wir schlossen einen Kompromiss und gingen in das Haus des »Südclubs«.
Inzwischen gibt es nicht mehr so viele Bands. Die Mitglieder sind weggezogen oder alt geworden, das Interesse ist geschwunden.

In die Clubwerkstatt kamen eine Zeit lang geistig behinderte Menschen. Die fanden das toll. Ich ließ sie ans Schlagzeug, damit sie die Klänge spürten. Woanders wurden sie abgewiesen: »Was wollt ihr hier?« Wir geben den Leuten eine Chance.

Mein Gerechtigkeitssinn für Schwächere hat sich erhalten. Mit der Flüchtlingsinitiative, die wir gründeten, setze ich mich für Leute in Not ein. Freunde sagen: »Irgendwann wirst du mal draufgehen, nervlich.« Manchmal bremse ich mich. Doch meistens kommen die Hörner durch.