Gehen oder Bleiben

Die Geschichte von Christian Benusch

Der bisher größte Schicksalsschlag meines Lebens ereilte mich im Alter von 2 Jahren, im Dezember 1991. Meine Schwester und ich wollten rodeln gehen. Wir wohnten auf einem alten Vierseitenhof hier im Dorf, den ein großes Tor zur Straße hin begrenzte. Ich kleiner Steppke zog wie ein Wilder an dem Tor und da kam es auf mich herabgestürzt. Gott sei Dank, denn ich brach mir mein linkes Bein. Bei der Untersuchung im Krankenhaus stellten die Ärzte Leukämie fest. Ein ganzes Jahr blieb ich im Krankenhaus in Dresden und war dem Tod näher als dem Leben. An die Zeit kann ich mich kaum noch erinnern. Aber bis heute sehe ich das Bild meiner Mutter vor mir, wie sie Tränen verschmiert auf dem Bett neben mir saß. Ich denke, dass meine enge Bindung an meine Eltern und auch an meinen Heimatort Geierswalde in dieser frühen Kindheitserfahrung wurzelt. Ich setzte mir schon früh das Ziel hierzubleiben, hier zu leben und alt zu werden.

Nach der überstandenen Leukämie verliefen meine Kindheit und Jugendzeit unspektakulär. Mit meinem Sandkastenfreund Sebastian trieb ich mich nach der Schule oft bei seinem Vater herum. Dieter Woßlick arbeitete in der Landwirtschaft, besaß einen Traktor und andere Technik, Viehzeug darunter Schafe und Kaninchen. Sucht nicht jeder Jugendliche nach einem Vorbild? Zu der Zeit war DJ Bobo ganz groß und meine Schwester eiferte ihm nach. Sie hörte von früh bis spät seine Musik, tapezierte ihr Zimmer mit seinen Postern und ging zu den Konzerten. Für mich war das nichts! Vielmehr wurde Sebastians Vater zu meinem Vorbild. Er ist offen und freundlich, immer überall hilfsbereit, hat viel bei uns im Ort bewegt und besitzt ein großes Talent fürs Organisieren. Bis heute engagiert er sich stark für Geierswalde und füllt eine tragende Rolle aus, ist im Gemeindekirchenrat und Chef der Freunde des Maibaums. Ich wünschte, es gäbe mehr Menschen wie Dieter. Er hat mich stark geprägt und mich in meiner Leidenschaft für die Landwirtschaft bestärkt.

Mit dem Abitur in der Tasche hieß es 2008: „Was machste nun?“ Für mich stand fest, dass ich in Geierswalde bleiben wollte. Das bedeutete Landwirtschaft, Bergbau oder Verwaltung. Ich fuhr nach Meißen, um mir die Verwaltungshochschule anzuschauen. Die hatten dort ihre Gesetzbücher auf dem Tisch und spielten dahinter Karten. „Die dicken Bücher sind ja gut geeignet für viele Sachen“, überlegte ich. „Aber durchlesen? Nee!“ Mein zweites Ziel war die Bergakademie Freiberg. „Glück auf!“ dachte ich, aber schon auf den ersten Blick wurde mit klar, dass der Bergbau nicht meins ist. Eine reine Bauchentscheidung. Schließlich folgte ich meiner Leidenschaft und studierte in Pillnitz Landwirtschaft.

Ein Praktikum führte mich zurück in die Lausitz. Ich arbeitete hier für einige Zeit in einem Landwirtschaftsbetrieb. Mir wurde in Aussicht gestellt, nach dem Praktikum richtig dort einzusteigen, aber der neue Geschäftsführer machte mir einen Strich durch die Rechnung. Wir kamen nicht miteinander klar. Es war eine schwierige Zeit – zwar schon am Ende des Studiums, aber noch keine Praktikumsarbeit geschrieben, keine neue Perspektive, keine Stelle in Sicht. Ich war auf mich allein gestellt als ich im Oktober 2012 ­meine Freundin Laura traf – und alles änderte sich! Sie machte mir Mut und brachte mich auf neue Gedanken. So verschlug es mich nach Riesa.

Riesa, könnte man sagen, ist meine zweite Heimat. Meine Mutter kam 1963 als Spätvertriebene aus Schlesien in die Stadt. Im heutigen Polen besuchte sie noch die ersten drei Klassen der Grundschule und kam danach über Umwege in Riesa unter. Ich überlegte also: „Da in Riesa steht ein Haus meiner Familie, es gibt dort auch Landwirtschaft und bessere Böden als in der Lausitz. Warum gehe ich nicht dahin?“

Dort unten geriet ich an einen älteren Herrn, den Chef einer Agrargenossenschaft mit zwanzig Mitarbeitern und 2.000 Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche im Eigentum von 50 Genossen. Wiederum dachte ich: „Der erzählt viele schöne Geschichten und wird ja auch irgendwann mal in Rente gehen.“ Er ermöglichte mir viel, sehr viel und teilte seine zahlreichen Erfahrungen und Lebensweisheiten mit mir. Mit seiner Hilfe schloss ich das Studium erfolgreich ab. Seit über zwei Jahren arbeite ich bei ihm, durfte immer mehr Verantwortung übernehmen und habe inzwischen eine sichere Perspektive: 2017 könnte ich den Vorstandsvorsitz der Genossenschaft übernehmen. Zudem ist da das Haus meiner Großeltern. 1983 erbaut, ist es noch top in Schuss. Ich könnte dort sofort einziehen und jeden Tag mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren.

Jedoch schlagen zwei Herzen in meiner Brust. Ich will zurück nach Geierswalde und damit meinen Eltern etwas zurückgeben. Ich lernte meine Lausitzer Großeltern nie kennen, als meine Oma 1988 starb, war ich noch nicht auf der Welt. Wie schön es ist, Omas und Opas nah bei sich zu haben und jeden Tag mit ihnen spielen zu können, das weiß ich bloß aus Erzählungen. Für meine Kinder wünsche ich mir, dass sie das selbst erleben können. Zudem ist mein Lebensmittelpunkt immer in Geierswalde gewesen. Sogar während des Studiums ging ich hier zur Feuerwehr und zu meinen anderen Vereinen. Alles woran ich Spaß habe und was mir wichtig ist, befindet sich hier.

Man muss sich im Leben entscheiden! Durch einen dummen Zufall las ich in der Zeitung, dass sie bei Vattenfall in Cottbus noch jemanden für den Bereich Rekultivierung suchen. Ich ging zum Vorstellungsgespräch und unterschrieb gerade heute Nachmittag meinen Arbeitsvertrag. Im Oktober fange ich an! In den zwei Jahren, in denen ich in Riesa arbeitete, wurde mir viel Vertrauen geschenkt. Es wird für mich sehr schwer, dieses jetzt zu zerstören.

Doch zuversichtlich gehe ich in die Zukunft in Geierswalde mit meinen Eltern und meiner lieben Laura.