Von Zukunftsvisionen und Fluchtgeschichten – ein Wochenende mit Geflüchteten in der Lausitz

Willkommen-Zukunftswerkstaetten2016Am Himmelfahrts-Wochenende (5.-8. Mai) durften wir im IBA-Studierhaus in Großräschen einer besonderen Veranstaltung teilhaft werden: dem 30. Jahrestreffen der Zukunftswerkstätten. Das Thema lautete: „Kommen und Bleiben – Ende der Flucht? Wandel und Neubeginn mit Teilhabe gestalten“.

Unsere Gruppe war bunt zusammengesetzt. Junge und Alte, Frauen und Männer, Einheimische und Geflüchtete. Menschen mit unterschiedlicher Herkunft und verschiedenen Geschichten kamen zusammen und sprachen über die Gestaltung einer gemeinsamen und gerechteren Zukunft.
Wir verknüpften die Aspekte Flucht und Teilhabechancen miteinander und fragten: Welche Prozesse wollen wir in Gang setzen? Wie können wir Menschen dort unterstützen, wo gesellschaftliche Teilhabe dringend nötig ist?

Geflüchtete erzählen ihre Geschichte – ein Erzählsalon zum gegenseitigen Kennenlernen

Den Auftakt des Wochenendes bildete ein vom Projektteam »Die Lausitz an einen Tisch« organisierter Erzählsalon zum Thema: „Was ich für Flüchtlinge tue oder tun möchte“. Neben Teilnehmern des Jahrestreffens waren auch zehn Geflüchtete der Einladung in diesen besonderen Erzählsalon gefolgt.
Der Salon startete mit Erlebnisberichten der Geflüchteten – allesamt junge Männer aus Syrien und Afghanistan, die in einem Übergangsquartier in Sedlitz, einem Ortsteil von Senftenberg, untergebracht sind.

Zakaria-aus-AleppoZakaria, ein 23-jähriger Chemiestudent aus dem syrischen Aleppo erzählte von seiner Flucht an der Seite seines 16-jährigen Bruders. Als der Krieg ihre Heimatstadt erreicht hatte, verließen sie sie. Ihr Weg führte sie zunächst in die Türkei. Von da aus ging es mit einem Boot nach Griechenland und weiter über die Balkanroute – zu Fuß, mit Bahn und Bus. In Deutschland angekommen sei es Zakarias großer Wunsch gewesen, sein Studium wieder aufzunehmen. Jedoch ist dies ohne Aufenthaltsgenehmigung nicht möglich. Nach Monaten des Wartens kam für den Wissbegierigen endlich das „Ja“. Im Sommer beginnt er ein Studium an der TU Berlin. So positiv sich die Geschichte für ihn wandelte, das Warten bleibt: Sein 16-jähriger Bruder ist (noch) nicht anerkannt und darf damit keine Schule besuchen und nicht nach Berlin ziehen, wie Zakaria erzählt.

Jeder seiner Zuhörer lauschte gebannt. Trotz Sprachbarrieren – ein Projektmitarbeiter übersetzte vom Deutschen ins Englische und umgekehrt – ergab sich nach und nach ein fließender Austausch von Geschichten. Zwischen den Geflüchteten und den Deutschen. Erzählen ist universell. Entscheidend ist, dass Menschen überhaupt zueinanderkommen, dass ein Anlass dafür geschaffen wird. Vor allem wenn es Menschen unterschiedlicher Kulturkreise sind, bedarf es eines Impulses, diese Zusammenkunft zu arrangieren. Der Erfahrungsaustausch kommt dann von ganz allein.

Mohammed-aus-syrienMohammed (42) aus Syrien, ein fünffacher Familienvater, erzählte, dass er früher in seiner Heimatstadt einen kleinen Laden betrieb und später als Bauarbeiter tätig gewesen sei. Als der Krieg seine Heimat erschütterte, beschloss er, zu fliehen. Sein Ziel war es, seinen Kindern eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Zusammen mit seiner Familie ging er in den Libanon, in ein riesiges Flüchtlingslager. Hier harrte er aus und hoffte, dass der Krieg bald vorüber sei und er zurück in seine Heimat kehren könne. Doch vergeblich. Er erkannte, dass er Handeln muss, um sein Ziel zu erreichen.

Er entschied sich, die Flucht nach Europa zu wagen. Da der Weg für seine siebenköpfige Familie zu gefährlich gewesen wäre, floh er allein. Jetzt, nach Erreichen seines Ziels Deutschland, hoffe er auf den Familiennachzug. Heute befindet sich die Familie des Bauarbeiters noch immer in dem libanesischen Flüchtlingslager. Unter katastrophalen Bedingungen und mit wenig internationaler Hilfe harren im gesamten Libanon mehr als eine Million Syrer aus.

Jaja-im-erzaehlsalon-zukunftswerkstaettenAuch ein junger Somalier aus Mogadischu erzählte im Salon, wie er zusammen mit seinem Onkel und seiner Tante seinem von Bürgerkrieg und Fundamentalismus erschütterten Heimatland den Rücken kehrte. Sie hätten so sehr auf ein Leben in Frieden und Sicherheit gehofft. Vom Horn von Afrika ging es ans Mittelmeer nach Libyen. Da sie ohne gültige Pässe an der Grenze aufgegriffen wurden, mussten sie in Haft. Nach eineinhalb Jahren Gefängnis kamen er und seine Tante frei. Der Onkel sei seitdem vermisst. Ihr Weg führte die Freigekommenen an die Küste des Mittelmeers, wo sie mit Hilfe von einem Schlepper auf ein Boot mit 85 weiteren Menschen stiegen.

Auf Überfahrt nach Italien sank das Boot, die italienische Armee leitete eine Rettungsaktion ein. Viele der hilfesuchenden Menschen konnten in Sicherheit gebracht werden, andere ertranken, erzählte er. Darunter auch die Tante des jungen Somaliers. Von Italien aus ging es für ihn ohne die Familie weiter Richtung Deutschland. Er schloss sich einer Gruppe von anderen Somaliern an und kam schließlich über Umwege nach Sedlitz in der Lausitz. Hier besucht er die Schule und hofft auf eine spannende Ausbildung.

Freud und Leid der Flüchtlingsarbeit

Aspasia-Erzaehlsalon-ZukunftswerkstaettenDie deutschen Teilnehmer des Erzählsalons beim Jahrestreffen der Zukunftswerkstätten im IBA Studierhaus erzählten bewegend von ihren Erfahrungen mit Geflüchteten. Ob hauptberuflich oder ehrenamtlich: Jeder Erzähler, der sich für Geflüchtete engagiert, berichtete sowohl von den Freuden als auch Schwierigkeiten in der Flüchtlingsarbeit.

Eine Lehrerin, die in einer Erstaufnahmeeinrichtung Deutsch unterrichtet, schilderte, wie viel sie mit den jungen Geflüchteten lacht. Für Kinder, die viel Leid in ihrer Heimat erfahren haben, seien Geborgenheit und Normalität enorm wichtig, um sich auszutoben und wieder Freude empfinden zu können. Das Kommen und Gehen der Menschen schränkt ein intensives Kennenlernen ein. Das bedauert die Deutschlehrerin.

Aspasia-Erzaehlsalon-ZukunftswerkstaettenEin anderer Teilnehmer erzählte von seiner Arbeit mit geflüchteten Kindern. Gemeinsam entwirft er mit ihnen Spielplätze. Dabei muss er sich unmittelbar mit den Kriegserfahrungen der Kinder auseinandersetzen. So forderte beispielsweise ein syrisches Mädchen, Netze auf dem Spielplatz anzubringen, um Bomben abzufangen.

Ein Werbefachmann berichtet, dass er sich jedes Mal freue, wenn er obdachlosen Afghanen, Irakern und Afrikanern einmal in der Woche seine Hilfe anbieten kann. Laut einem anderen Ehrenamtlichen ist es schwer auszuhalten, dass er einem jungen Mann aus Albanien nicht mehr helfen kann, weil dieser untergetaucht sei.

Die Geschichten des Erzählsalons beim Jahrestreffen waren vielseitig und riefen verschiedene Emotionen hervor: Die Zuhörer schmunzelten oder lachten, waren fassungslos oder verärgert, manch einer weinte. Vor allem machten die Geschichten nachdenklich. Sie führten dazu, dass die Teilnehmer ein erstes Verständnis füreinander entwickeln konnten.

Wieder einmal zeigte sich: Dadurch, dass die Menschen zusammen an „einen Tisch“ kommen, können Beziehungen zwischen ihnen entstehen. An diese kann angeknüpft werden – um Zukunft zu gestalten. So entstehen gute Geschichten, die, als positive Beispiele weitererzählt oder aufgeschrieben, für andere Menschen Vorbildcharakter entwickeln können. Auch und gerade in einem Salon, in dem sich Teilnehmer das erste Mal begegnen – und einander Geschichten erzählen, die in für den Zuhörer teils unvorstellbaren Erfahrungsräumen spielen.

Gemeinsame Entdeckung der Lausitz – eine Exkursion in die Industrielandschaft

Exkursion-Zukunftswerstaetten-LausitzAm nächsten Tag besichtigten wir gemeinsam die Lausitz, um den Wandel von der Braunkohle zur Seenlandschaft mit eigenen Augen zu erkunden.
Die Exkursion führte zuerst zu einem Verbindungskanal zwischen Großräschener und Sedlitzer See und zum Tagebau Welzow-Süd. Hier sahen einige Deutsche zum ersten Mal, wie Braunkohle abgebaut wird. Die Geflüchteten lernten bei der Besichtigung, was Braunkohle ist, denn viele von ihnen kannten diesen Rohstoff nicht.

In der Gartenstadt Marga erfuhren die Teilnehmer mehr über sozialreformerisches Bauen und bekamen einen Eindruck davon, wie viele Menschen hier einst für Arbeit in den angrenzenden Industriezweigen herzogen.
Eines der letzten Relikte der Braunkohleindustrie konnten die Teilnehmer in Lauchhammer begutachten: Die Biotürme.

Lesung vor den Biotürmen in LauchhammerHier lasen wir, das Projektteam von »Die Lausitz an einen Tisch«, Erzählungen der Lauchhammeraner über ihre Tätigkeit in der Kokerei und über die Wendezeit vor.
Die Geschichten machten deutlich, wie die Lauchhammeraner den politischen und landwirtschaftlichen Wandel persönlich erlebt hatten. Die imposante Erscheinung der Biotürme war dafür das passende Setting.

Schließlich besuchten die Teilnehmer noch die Abraumförderbrücke F60 in Lichterfelde. Das größte Bergbaugerät der Welt hinterließ bei einem Syrer einen so großen Eindruck, dass er entschloss, es demnächst in kleinem Stil nachzubauen – als maßstabsgerechtes Modell.

Auf der Exkursion erfuhren die Teilnehmer nicht nur von den Errungenschaften der IBA. Sie sahen auch, wie die Lausitzer Landschaft aktiv gestaltet und dabei die Zukunft geformt wird. Gerade dieses eigenmächtige Handeln und Planen ist für die in der Lausitz neu Angekommenen wichtig.

Die Zukunft aktiv gestalten – produktive Gruppenarbeit in der Zukunftswerkstatt

In der Zukunftswerkstatt entwickelten Geflüchtete und Einheimische zusammen in kleinen Arbeitsgruppen ihre Zukunftsvisionen und diskutierten notwendige Handlungsansätze.
Die leitenden Fragen hießen: „Wie können wir Wandel und gesellschaftliche Teilhabe wirksam gestalten? Wie verbinden wir Fluchtbewegungen mit sinnvollem Tun?“

In der ersten Phase, der Kritik-Phase, sammelten die Teilnehmer zunächst ihre Beschwerden und Sorgen. Schnell stellte sich heraus: Fehlende Sprachkenntnisse sind die größten Barrieren, um die eigene Zukunft zu gestalten. Einige Teilnehmer wiesen darauf hin, dass aber nicht nur der Deutschunterricht für die Neuangekommenen notwendig sei. Einheimische Bürger sollten genauso daran interessiert sein, andere Sprachen, allen voran Arabisch, zu lernen, um eine gegenseitige Kommunikation zu ermöglichen. Denn Integration ist nur möglich, wenn alle gemeinsam – Neuangekommene und Einheimische – daran arbeiten.

Die Gruppenarbeit war sehr lebendig. Trotz Übersetzungsschwierigkeiten war jeder Teilnehmer im Gespräch und versuchte, die Sorgen der anderen herauszufinden. Mit jeder Frage und Nachfrage der Deutschen merkten die Geflüchteten, dass ihre Sorgen ernst genommen werden, ihnen zugehört wird. Die Zusammenarbeit ermöglichte den Deutschen, die Geflüchteten besser kennenzulernen und ihnen eine Aufmerksamkeit zu schenken, die diese sonst nicht bekommen.

Einige Syrer bemängelten ihre eingeschränkten Handlungsmöglichkeiten: Zwar hätten sie viele Ideen, ihre Zukunft zu gestalten, doch aufgrund fehlender Aufenthaltsgenehmigungen bzw. Pässe könnten sie diese Ideen nicht planen und umsetzen. Auch der fehlende Kontakt zu Sedlitzern bzw. Senftenbergern sei für die Syrer ein Hindernis, um sich im Ort zu integrieren.

In Phase zwei trugen die Arbeitsgruppen alle Wünsche, Ideen und Visionen für die Zukunft zusammen. Die Aufforderung der Moderatoren, dabei utopische Gedanken zuzulassen, bereitete vielen Schwierigkeiten.
Das Konzept der Utopie ließ sich nur schwer vermitteln. Daher nannten die meisten Teilnehmer konkrete Anliegen, wie den Wunsch nach regelmäßigem Deutschunterricht, nach Arbeit oder nach mehr Kontakt zu Einheimischen. Auch wenn einige Vorhaben vorerst schwer zu realisieren sind – die Möglichkeit, alle möglichen Wünsche zu äußern, ließ die Geflüchteten aufblühen, sodass sie kreativ wurden und ihre Wünsche notierten und sogar aufzeichneten. Ein Plakat zeigte deutlich, dass der Wunsch nach Frieden für die Syrer an oberster Stelle steht. Auf eine mit roter Farbe hinterlegte Landkarte schrieben ein Familienvater, ein Student und ein Schüler: „Save Syria! Save Aleppo!“

In der dritten Phase überlegten die Teilnehmer gemeinsam, welche Ressourcen, Kontaktpersonen und Aktivitäten notwendig sind, um die Ideen aus Phase zwei umzusetzen. Am Ende standen konkrete Vorhaben fest.
So soll etwa eine Kooperation zwischen syrischen Fußballspielern und der TU Cottbus angestrebt werden, damit die syrischen Männer Trikots und eine Halle im Winter nutzen können. Aushängeschilder wollen wir von »Die Lausitz an einen Tisch« für diejenigen Geflüchteten anfertigen, die ihre Gartenarbeit oder Kochkünste anbieten möchten oder nach deutschen Lernpartnern suchen.

Der Erzählsalon und die Zukunftswerkstatt haben Einheimische und Geflüchtete, Alt und Jung so zusammengebracht, wie es im Alltag nicht möglich ist. Mit Offenheit und Geduld haben sie einander kennengelernt und gemeinsam Ideen für die Lausitzer und die eigene Zukunft erarbeitet. Der erste Schritt des Integrationsprozesses in der Lausitz ist getan.

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